Faktor Mensch

Liebe Leserin, lieber Leser!

Es war nur eine Frage der Zeit, bis das erste Buch rund um den Global Marshall Plan hier auftaucht. Peter Spiegel ist mir natürlich seit ein paar Jahren ein Begriff, allerdings in Verbindung mit dem „genisis institut“ und dem Vision Summit. Und so hat es bis heute gedauert, dass ich die Verbindung von Spiegel zum Global Marshall Plan begriffen hatte. Dafür bin ich jetzt umso überzeugter, dass dieses globale, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Konzept ein sehr vielversprechender Ansatz für ein, wie Spiegel es in seinem Untertitel formuliert, „humanes Weltwirtschaftswunder“ ist. Vor allem auch deshalb, weil hier niemand das Rad neu erfindet, sondern auf einer Menge längst bestehender, gründlicher Vorarbeiten aufbaut und das auch klar und deutlich darlegt.

Peter Spiegel kommt in drei Schritten zu dem überraschenden und doch gut nachvollziehbaren zentralen Lösungsvorschlag einer weltweiten massiven Reform unseres Bildungssystems: Viele der anstehenden Aufgaben, die es zu lösen gilt, wenn wir nicht in Teufels Küche kommen wollen, lassen sich bewältigen, wenn wir uns zu „Unternehmern der eigenen Potentiale“ entwickeln. Mit anderen Worten: Wenn wir zu „Lern-Unternehmern“ werden, gelingt es uns zunehmend besser, uns an sich ständig ändernde Umweltbedingungen schnell anzupassen und kreative Lösungen für unsere globalen Probleme zu finden.

Zu Beginn geht es um unsere „radikal neuen Rahmenbedingungen“: Infolge der Globalisierung gibt es eine gigantische Machtverschiebung weg von nationalstaatlicher Gestaltungsmacht hin zur Gestaltung unserer Welt durch globale Konzerne, die nicht mehr nationalstaatlich zu kontrollieren sind: „… eine dezentrale Gesellschaftsordnung in einer globalisierten Welt (ist) nur möglich, wenn es gleichzeitig globale demokratische Strukturen gibt.“ (S. 54). Aber damit nicht genug. Viele, wenn nicht sogar alle unserer bisherigen Standortvorteile in den Erstweltländern kehren sich zu unseren Ungunsten um.

  1. Unser Bildungssystem ist längst nicht mehr zeitgemäß und der Lernhunger westlicher Schüler und Studenten wird bei weitem durch den der Lernenden aus Schwellen- und Drittweltländern überflügelt.
  2. Unsere hoch entwickelte Infrastruktur wird zur Last, denn es ist wesentlich einfacher, Infrastrukturen zeitgemäß neu zu schaffen, als alte umzugestalten.
  3. Zunehmend mehr Arbeitsplätze im Bereich Forschung und Entwicklung werden in Niedriglohn-Länder verschoben. Gemäß der „Zauberformel“ High-Tech plus Low-Income.
  4. Unser Wohlstand wird zum zweischneidigen Bumerang. Einerseits geht’s uns materiell gut. Allerdings schlittern wir immer mehr in eine Sinnkrise. Und so gilt hier das Gleiche, wie unter Punkt 2: Es ist leichter, Wohlstand neu und intelligent zu definieren, wo er noch nicht aufs Materielle festgeschrieben ist.
  5. Unsere bislang hohe gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität beginnt zu bröckeln. Gemäßt der Deprivationstheorie reagieren gesättigte Menschen schneller und empfindlicher auf reale oder vermeintliche Zerstörung ihres Wohlstands, als Menschen, denen es bislang sowieso nicht allzu gut ging. Gewaltausbrüche wie in Paris und London oder die Occupy-Wallstreet Bewegung bezeugen die zunehmende Instabilität unserer Gesellschaft ebenso, wie die weiter gährende Eurokrise.
In diesem Zusammenhang steht auch die zunehmende Privatisierung ehemals staatlicher Leistungen. Das ewig gleiche, ideologisch verzerrte und faktenleugnende Mantra aller neoliberalen Wirtschaftsbesserwisser läuft, sobald man sich die realen Effekte anschaut, ins Leere. So wurde oft die Privatisierung der Telekommunikation in Mexiko als Erfolgsstory bemüht. Und ja, sie ist ein Erfolg. Allein: Zeitgleich wurde dieser Bereich in Uruguay nicht privatisiert und doch wurden die Leistungen besser und billiger. In Argentinien wiederum wurde wie in Mexiko privatisiert, aber die „Ergebnisse blieben weit hinter denen in Mexiko und Uruguay zurück.“ (S. 80) Oder die einst staatliche Wasserversorgung in Grenoble: Nach der Privatisierung stiegen die Preise bei gleichzeitiger Verschlechterung der Qualität. Als selbst eine Teilverstaatlichung (Banken!) nur zu geringen Verbesserungen führte, löste eine Vollverstaatlichung das Problem. Kurzum: Das neoliberale Privatisierungsgeschwätz entbehrt jeglicher Faktengrundlage.
Im zweiten Teil stellt Spiegel den Global Marshall Plan vor. Wie der Name klar macht, ist dieser Plan inspiriert vom historischen Marshall Plan nach der Niederlage Deutschlands im zweiten Weltkrieg. Und so, wie es damals weise war, Deutschland nicht an der kurzen Leine zu halten, sondern dabei zu unterstützen, dass es stark und autonom zu einer neuen Demokratie und Wirtschaftsmacht heranwachsen kann, so wäre es genauso weise, dies jetzt auf globaler Ebene neu zu inszenieren. Der Global Marshall Plan steht auf einem starken Fundament vielfältiger Vorarbeiten wichtiger Persönlichkeiten: Franz Alt, Kofi Annan, Al Gore, Michail Gorbatschow, George Soros, Hans Küng – um nur die bekanntesten zu nennen. Dieser Plan setzt auch nicht völlig neue Ziele, sondern übernimmt die „Millenium Development Goals“ vom Milleniumgipfel der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000:
  1. „Weltweite Halbierung der Anzahl der Personen, deren Einkommen weniger als einen Dollar pro Tag beträgt
  2. Ermöglichung des Besuchs eines vollen Grundschulprogramms für alle Kinder
  3. Senkung der Kindersterblichkeit auf ein Drittel der heutigen Werte
  4. Substanzielle Verbesserungen bei der Gesundheit von Müttern
  5. Umkehrung der Trends bei HIV/AIDS, Malaria und anderen epidemischen Krankheiten
  6. Umkehrung des Trends beim Verlust von Umweltressourcen
  7. Halbierung der Anzahl der Menschen die keinen Zugang zu gesundem Trinkwasser haben
  8. Herbeiführung einer neuartigen Partnerschaft für Entwicklung.“ (S. 114)
Gerade dieser letzte Punkt lohnt einer Ausdifferenzierung, er soll unter anderem erreicht werden durch
  1. „die Entwicklung eines offenen Welthandels- und Weltfinanzsystems unter geeigneten Rahmenbedingungen …
  2. Aktiviäten zur Armutsüberwindung, z.b. bzgl. der Schuldenproblematik von besonders armen Ländern
  3. Zugang für alle zu den Vorteilen moderner Technologie, vor allem im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie und damit Anstrengungen zur Überwindung der digitalen Spaltung.“ (S. 115)

Auch wenn das alles sehr hochgegriffen wirkt, so haben doch bedeutende internationale Organisationen diese Ziele übernommen: Die Welthandelsorganisation, die Weltarbeitsorganisation, das Umweltprogramm der Vereinten Nationen, die Weltbank und der Internationale Währungsfond. Und eines wird klar: Um die globalen Risiken in Chancen zu verwandeln, brauchen wir eine Kooperation zwischen Unternehmen und (Nicht-)Regierungsorganisationen, so wie es auch Peter Senge in seinem Buch „Die notwendige Revolution“ beschreibt.

Aber wie soll das finanziert werden? Drei Vorschläge werden zur Zeit diskutiert und sie wären durchaus realistisch. Erstens: Sonderziehungsrechte, also Kredite, die Ländern im Verhältnis zu Ihrer in den IWF-Fonds eingezahlten Quote zu Verfügung gestellt werden. Zweitens: Die Tobin-Abgabe auf globale Finanztransaktionen in einer ersten, experimentellen Höhe von 0,01 Prozent auf globale Finanztransaktionen. Drittens: Die Terra-Abgabe als Einnahme aus allen internationalen Warentransfers bezogen auf die aktuellen Importwerte. Natürlich wirft das eine Menge Fragen auf – die Peter Spiegel jedoch profund und überzeugend beantworten kann.

Am Ende steht der „Unternehmer der eigenen Potentiale“: Wenn die Welt komplexer, dynamischer und damit wandelbarer wird, müssen wir alle mit einem zunehmenden Maß an Unsicherheit klarkommen (→ Mehr darüber in meinem Artikel „Nichtwissen: Too much information). Und um das zu schaffen, müssen wir lernen, wie wir am besten lernen. Und damit sind wir beim Metalernen und einem neuen Bildungsprogramm. Spiegel berichtet von einem unglaublich inspirierenden, kolumbianischen Bildungskonzept der Stiftung zur Anwendung und Lehre der Wissenschaft (FUNDAEC). Im Rahmen der schwierigen kolumbianischen Rahmenbedingungen begann eine Gruppe von Wissenschaftlern, Bildung komplett neu zu denken. Sie forschten 12 Jahre lang in der ländlichen Bevölkerung und fanden schnell dazu, sich selbst in diesen Forschungsprozess einzubeziehen. Die Wissenschaftler hinterfragten ihre eigenen mentalen Modelle, ihre eigene Teamarbeit und vieles mehr. Und sie bezogen die Forschungs“Objekte“ mit in den Forschungsprozess ein. So entstand ein komplett neues Bildungsprogramm:

  1. Der Lehr- und Lernort wird nicht mehr durch die Dozenten festgelegt (Schule, Universität), sondern durch die Schüler und Studenten. Die Lehrer richten sich nach den Schülern!
  2. Unterrichtszeiten werden ebenfalls durch die Schüler und Studenten festgesetzt. „Vorgegeben ist nur das Gesamtpensum.“ (S. 192)
  3. Lehrer sind gleichzeitig Studenten und Schüler/Studenten sind – nicht nur projektbezogen – sondern fortwährend auch Lehrer. So schreiben die Schüler/Studenten auch an den Lehrbüchern mit! Lehrbücher werden so zu interaktiven Lernbüchern.
  4. Lernen findet grundsätzlich kooperativ zwischen den Schülern/Studenten statt. Nicht nur vereinzelt, sondern kontinuierlich.
  5. „Nicht der Wissensinput, sondern der Handlungsoutput steht beim Schulsystem der Entwicklungsschulen im Mittelpunkt.“ (S. 198)
  6. Daraus folgt eine starke Kondensierung der Unterrichtsfächer in die Bereiche Kommunikation, Naturwissenschaft, Mathematik, Technologie und Gemeinschaft.
  7. Letztlich wird jeder Unterrichtsstoff gleich und nicht erst als Versprechen in ferner Zukunft im praktischen Leben angewendet, getestet und vertieft. Niemand lernt hier für das Leben, sondern direkt am und im Leben. Transfer wird somit überflüssig.
Die Erfolge sollten Kritiker zu denken geben: Bis 2005 wurden 3000 Entwicklungslehrer ausgebildet, die mehr als 60.000 Schüler bis zum Abitur geführt haben. Desweiteren: „Obwohl ihre Schüler eher eine vermeintliche Negativauswahl darstellen, da die fitteren Familien längst in die Städte gezogen sind und der Bildungsdurchschnitt auf dem Lande daher weit unter jenem der Städte liegt, sind die Absolventen der ländlichen Entwicklungsschulen ihren gleichaltrigen Kollegen aus den Städten in nahezu jeder Hinsicht haushoch überlegen.“ (S. 197) Experten gehen sogar davon aus, dass die FUNDAEC Schüler/Studenten ihren klassischen Kollegen um mindestens ein Jahr voraus sind.
Ein völlig neues Bildungssystem scheint also eine ernsthafte Möglichkeit zu sein, Menschen zu Unternehmern ihrer eigenen Potentiale zu machen. Das ist wirklich ermutigend.

Etwas bleibt kritisch anzumerken: Jetzt, gute sieben Jahre nach der Veröffentlichung des Buches ist es fragwürdig, die Europäische Union als „einmalige Erfolgsstory“ (S. 138) zu betrachten. Offensichtlich haben die von Spiegel genannten Länder Griechenland, Portugal, Spanien und Irland ihr wirtschaftliches Entwicklungstempo überhaupt nicht ausreichend beschleunigen können. Da wäre etwas Zurückhaltung in der Einschätzung klüger gewesen.
Ähnlich verhält es sich mit der verfrühten Lobeshymne auf Mikrokredite: „Kleinkredite sind ein klassisches Win-Win-Spiel, das auf Dauer nur Gewinner kennt.“ (S. 247) Mittlerweile gibt es eine reichlich gemischte Gemengelage an Kleinkredit-Effekten. Dadurch wird natürlich nicht die Idee an sich in Frage gestellt, denn es gibt sicher eine Menge großartiger Erfolge. Aber wir wissen schon lange, dass jede Idee pervertiert werden kann, sei sie noch so gut gemeint und ursprünglich noch so effektiv gewesen sein. Und so führten Mikrokredite durch unlautere Banken teilweise zu noch mehr Elend als zuvor.
Schwierig erscheint mir auch, Weltuntergangsszenarien an die Wand zu malen, wenn die Welt nicht der Global Marshall Plan Initiative folgt (S. 99). Mit „Facts, Fear and Force“ zu arbeiten ist bedeutend weniger erfolgreich, als mit dem Muster „Relate, Repeat, Reframe“ wie das Alan Deutschman in seinem Buch „Change or Die“ schlüssig zeigte (mehr dazu im Artikel „fff. vs. rrr.“ im integral.blog).
Formal finde ich es bedauerlich, dass Peter Spiegel es seinen Leserinnen und Lesern häufig mit bandwurmartigen Sätzen nicht gerade leicht macht, dem ohnehin herausfordernden Stoff gut zu folgen. Und dass es bei einem Buch, gespickt mit Fakten, wichtigen Argumenten und Bezügen zu anderen Büchern, weder ein Stichwort- noch ein Literaturverzeichnis gibt, ist in der Sache fast schon fahrlässig. Schließlich sollte es doch im Interesse des Autors liegen, dass seine Leser diese Fakten, Argumente und Quellen jederzeit schnell abrufen können.

Fazit: Keine Frage – „Faktor Mensch“ ist ein Standardwerk für eine neue, menschliche Weltwirtschaft und Weltgesellschaft. Jeder, der oder die Interesse an einer menschenwürdigen globalen Weltordnung hat, sollte sich dieses Buch in Ruhe zu Gemüte führen. Insbesondere natürlich Menschen mit großer wirtschaftlicher Verantwortung.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Spiegel, P. (2005): Faktor Mensch. Ein humanes Weltwirtschaftswunder ist möglich. Horizonte Verlag, Paperback, 252 Seiten. 25,- €.

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