Gegen Demokratie

Vor einigen Monaten hatte ich das Vergnügen eines anregenden Gesprächs mit dem Econ Verlagsleiter Jürgen Diessl. Am Ende schenkte er mir das provokative Buch „Gegen Demokratie“ von Jason Brennan. Der Titel hatte mich natürlich sofort zur Lektüre eingeladen. Und ja: Ich wurde nicht im Geringsten enttäuscht. Vielmehr entpuppte sich Brennans umfassendes Werk zur Weiterentwicklung der Demokratie als eines der wichtigsten Bücher für mich in der letzten Zeit. Neben David van Reybroucks „Gegen Wahlen“ liefert es mir vor allem diverse Inspirationen für meine Arbeit als Berater. Und es hat mich zu einem wichtigen Schritt inspiriert, den ich gemeinsam mit ein paar Kolleg*innen am 15.01.2018 veröffentlichen werde…

Brennan #2Jason Brennan arbeitet aktuell als außerordentlicher Professor für Strategie, Volkswirtschaft, Ethik und Public Policy an der  Georgetown University in Washington. 2017 erschien „Gegen Demokratie“ beim Ullstein Verlag (zu dem Econ gehört) und fand eine insgesamt große Resonanz in Deutschland. Natürlich ist sein Buch kein rechtspopulistisches Machwerk gegen Demokratie, wie der Titel erst mal vermuten lässt, sondern vielmehr ein fulminantes Plädoyer für eine aufgeklärte Demokratie – so zumindest würde ich es interpretieren, auch wenn so manch einer Probleme hat mit dem grundsätzlichen Lösungsvorschlag durch informierte Wähler*innen.

In neun Kapiteln entfaltet Brennan auf rund 400 Seiten eine Diagnose und Weiterentwicklung der aktuellen Demokratie, wobei er dabei vorwiegend auf die amerikanische Version blickt (zu der mangelnden Kritik seitens Brennan an der amerikanischen Demokratieversion später mehr). Dabei argumentiert er vorwiegend aus der Perspektive empirischer Politikwissenschaft und weniger durch eine theoretische Brille hindurch. Ziemlich zu Beginn stellt er grundsätzlich fest:

„Die heutigen Formen der politischen Partizipation sind nicht nur ungeeignet, uns zu erziehen oder edler zu machen, sondern tragen im Gegenteil dazu bei, uns zum Narren zu halten und zu korrumpieren. … Im Allgemeinen funktioniert die Demokratie besser als jene Alternativen, die wir ausprobiert haben. Aber vielleicht gibt es bessere Systeme, die wir noch nicht ausprobiert haben. “ (Brennan 2017: 15)

Ich wüsste nicht, wie dem zweiten Teil des Zitats logisch widersprochen werden könnte. Solange wir keine Alternativen ausprobiert und in Wirklichkeit erkundet haben, können wir sie auch nur begrenzt bewerten. Aber Brennan geht noch weiter und stellt erst mal eine fundamentale grundsätzliche Frage: Ist Demokratie ein Wert oder ein Instrument? Für Brennan ist die Angelegenheit klar: Demokratie ist ein Instrument. Es gibt für ihn nur einen Grund, der Demokratie vor anderen Systemen den Vorzug zu geben: Sie ist besser geeignet, „gerechte Resultate zu liefern, die an verfahrensunabhängigen Maßstäben der Gerechtigkeit gemessen werden können.“ (a.a.O.: 30).

Zweifelsfrei holzschnittartig aber dadurch umso griffiger entwirft Brennan auf der Basis verschiedener empirischer Untersuchungen zur Wählerkompetenz eine grobe Typologie der Wähler („Archetypen“, vielleicht in Anlehnung an C.G. Jungs Begrifflichkeit), die – unter anderem – maßgeblich zu den aktuellen Problemen der Demokratie beiträgt:

  • Hobbits: Dies ist die größte Gruppe der Wähler*innen. Sie sind, wie Tolkiens amüsantes Völkchen, in erster Linie an einem ruhigen Leben interessiert und interessieren sich nicht allzusehr für die großen (politischen) Themen der Welt. Infolgedessen wissen sie nur sehr wenig oder nichts über politische Zusammenhänge und haben keine „klare und feste Meinung zu den meisten politischen Fragen, und oft haben sie überhaupt keine Meinung. … In den USA ist der typische Nichtwähler ein Hobbit.“ (a.a.O.: 19).
  • Hooligans: Sie sind da ganz anders. Genau so, wie ihre Namensvettern haben sie sehr wohl eine ziemlich klare Meinung. Die ist allerdings ausgesprochen unverrückbar und eher festbetoniert. Jeder, der etwas anderes meint, wird sogleich als Feind identifiziert und bekämpft. Hooligans bilden sich eine politische Meinung, sind dabei aber voreingenommen. Sie versuchen nicht einmal, andere Perspektiven zu verstehen, sondern bewegen sich nur in ihren Filterblasen – denn ihnen  dürfte nicht mal klar sein, dass sie in einer solchen Blase leben. Zentral bei Hooligans: „Sie haben ein übermäßiges Vertrauen in ihr Urteilsvermögen und ihr Wissen. Ihre politschen Überzeugungen sind Teil ihrr Identität, und sie sind stolz darauf, einem politischen Lager anzugehören.“ (a.a.O.: 20) Dieser Typ ist die Inkarnation des Dunning-Kruger-Effekts: Selbstüberschätzung aufgrund eigener Inkompetenz (vulgo: Dummheit) bei gleichzeitiger Unterschätzung der Kompetenz anderer.
  • Vulkanier: Spock und seine Artgenossen wären die idealen Wähler. Unvoreingenommen, neugierig, wissbegierig und immer in der klaren Reflexion, dass ihr Wissen jederzeit falsch sein könnte. Sie beugen sich dem besseren Argument und sind in der Lage, von ihrer bisherigen Meinung zu abstrahieren, abzusehen und sie gegebenenfalls zu ändern. Sie suchen Fakten und nicht bloße Meinungen. In der heutigen Zeit würden sie sich sicher viel Mühe geben, Fake News zu entlarven und nicht auf populistische Propaganda reinzufallen, geschweige denn, sie auch noch aktiv weiterzuverbreiten und sie mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.

Auch aufgrund dieser Typologie, die zumindest als grobes Raster auch über die USA hinaus eine gewisse Allgemeingültigkeit zu haben scheint, entstehen in der uns bekannten Form der Demokratie große Probleme. Entweder gehen Hobbits erst gar nicht wählen (ein sehr großer Teil der Wähler*innen aller Demokratien) und unterhölen damit grundlegende demokratische Mechanismen. Oder aber sie wählen als Hooligans, leicht manipulierbar mit einer zumeist extrem undifferenzierten Sicht auf die aktuellen politischen Herausforderungen. Das Ergebnis sind Regierungen, die einem großen Teil der Bevölkerung immer wieder mehr Nach- als Vorteile bringen. Aktuell wird dies an der amerikanischen Steuerpolitik sichtbar. Die meisten Hobbits und Hooligans dürften kaum von der Steuerreform eines egomanischen Präsidenten profitieren, dessen Wahl sie entweder nicht interessiert hat oder den sie selber sogar aktiv inthronisiert haben.

Somit ist  klar, worin grundsätzlich eine Verbesserung der Demokratie als Instrument liegen könnte: Das Wahlrecht wird nicht mehr als unveräußerliches Grundrecht betrachtet, sondern ist vielmehr abhängig vom Informations- und Wissensstand der Wähler. Das führte naheliegenderweise zu einem ziemlichen Aufschrei. Da wird der Vorwurf des Elitismus schnell laut, was zunächst nachvollziehbar ist. Andererseits stellt Brennan zurecht die zentrale Frage, warum es gerecht sein soll, dass viele Hooligans Menschen und Parteien auf der Basis erschreckenden Nichtwissens wählen – und damit mir und anderen wiederum das Leben schwer machen. Und möglicherweise sogar das Leben zukünftiger Generationen gefährden – Stichwort Klimapolitik oder der Umgang der USA im Konflikt mit Nordkorea.

Brennan zieht einen passenden Vergleich: Jeder hat das Recht, zu versuchen, Arzt zu werden. Aber das setzt verschiedene erfolgreich absolvierte Schritte voraus, die uns allen mehr oder weniger bekannt sind. Ich persönlich möchte denn auch nicht vom Leiter der IT Abteilung eines Krankenhauses meinen Blinddarm entfernt bekommen (Du vermutlich auch nicht). Mehr noch: Wir dürfen uns nicht mal als Klempner-Meister ausgeben und relativ triviale Dienstleistungen ohne allzugroße gesellschaftliche Auswirkungen feilbieten. Dabei geht es dort nur in absoluten Ausnahmefällen um das leibliche und seelische Wohl der Kunden, so wie bei den Patienten der Ärzte. Wir haben also kein Recht darauf, ohne vorherigen Erwerb und Nachweis entsprechender Kompetenzen Dinge zu tun, die nur geringe gesellschaftliche Auswirkungen haben. Indes dürfen wir alle wählen, egal wie gut wir informiert sind und gelernt haben, vielfältig (selbst)kritisch-konstruktiv zu denken und zu handeln. Zwar bestimmt der Einzelne nicht den Wahlausgang, aber eben die Stimmen der Vielen Uninformierten. Das erscheint mir nicht nur plausibel, sondern genau das habe ich immer wieder so erlebt.

Epistokratie basiert somit also nicht auf dem Autoritätspostulat, dass diejenigen herrschen sollten, die es (was auch immer) besser wissen. Brennan stellt selber fest, das seine Schwägerin als Ernährungswissenschaflterin mehr über (gesundes) Essen weiß, als er. Aber das gäbe ihr noch lange nicht das Recht, ihn zu einem bestimmten Speiseplan zu zwingen. Aber umgekehrt wird ein Schuh draus: Denjenigen Bürgern, die „moralisch unvernünftig, unwissend oder politisch inkompetent sind“ sollte nicht erlaubt sein, „politische Autorität über andere auszuüben.“ (a.a.O.: 40) Aber genau das passiert aktuell weltweit in Serie. Ein weiteres Beispiel dafür ist die britische Brexit Entscheidung.

Allerdings folgert Brennan nicht in naiver Weise,  endlich den gottgleich weisen Philosophenkönig zu finden und zu ermächtigen. Stattdessen präsentiert er fünf verschiedene Optionen einer Epistokratie:

  1. Beschränktes Wahlrecht: Bürger müssen erst einmal nachweisen, dass sie ausreichend informiert und kompetent sind, um wählen zu gehen. Dabei steht JEDEM die Möglichkeit offen, genau diesen Nachweis zu erbringen.
  2. Pluralwahlrecht: Wie bislang dürfen alle wählen gehen. Aber diejenigen von uns, die nachweisen konnten, besser informiert zu sein und über mehr Vulkanier-Kompetenzen verfügen, erhalten zusätzliche Stimmen.
  3. Stimmrechtslotterie: Niemand erhält automatisch ein Wahlrecht. „Kurz vor der Wahl werden Tausende Bürger mittels einer Lotterie als Vorwähler ausgewählt. Diese Vorwähler können dann das Wahlrecht erwerben, müpssen dafür jedoch an bestimmten Maßnahmen zur Entwicklung ihrer Kompetenzen teilnehmen, zjm Beispiel an Foren, in denen sie sich mit ihren Mitbürgern beratschlagen.“ (a.a.O.: 37)
  4. Epistokratisches Veto: Alle Gesetzesentwürfe werden von einem epistokratischen Gremium geprüft, das aus entsprechend informierten und ausgesuchten Mitglieder besteht. Dieses Gremium hat das Recht, die auf demokratischen Weg entworfenen Gesetze per Veto zu verhindern.
  5. Gewichtetes Wahlrecht/Regierung durch simuliertes Orakel: Jeder darf wählen, muss aber zuvor politische Grundkenntnisse belegen. Dabei wird dann seine Stimme in Relation zu seinem politischen Wissen unter möglicher Berücksichtigung diverser demographischer Faktoren bewertet.

Diese Optionen beleuchtet Brennan im achten Kapitel ausführlicher und wägt deren jeweilige Vor- und Nachteile ab, soweit sie aus der Theorie überhaupt zu erkennen sind. In diesem Zusammenhang stellt sich Brennan auch der Frage, wer überhaupt entscheiden soll, was als Kompetenz zählt. Denn schließlich sind wir nicht alle derselben Meinung, wer in welcher Frage kompetent ist und wem man deshalb vertrauen kann (und sollte). Auch hier bietet Brennan verschiedene Optionen an: In einem Referendum könnte das Parlament den Wähler*innen verschiedene Kompetenzkonzepte zur Wahl präsentieren, Bürger könnten einen Kompetenzrat bilden, oder die Regierung könnte die Wähler*innen befragen.

Selbstredend gibt es eine Menge Fragen und Einwände gegen diesen Ansatz. Ich kann hier nicht mal näherungsweise auf alles eingehen, was Brennan sehr wohl differenziert und konstruktiv reflektiert. Er geht auf verschiedene grundlegende Argumente für ein grundsätzliches Wahlrecht für alle ein, und regt – vorsichtig formuliert – zumindest zum Nachdenken darüber ein. Mir sind indes vor allem zwei Punkte aufgefallen, die Brennan nicht (ausreichend) diskutiert hat und die eine gewisse Kritik wachrufen:

  1. Brennan scheint ein relativ linear-kausales Weltmodell zu grunde zu legen. Wenn meine Handlungen nicht direkt zu messbaren (großen) Wirkungen führen, dann sind meine Handlungen bedeutungslos. Dem würde ich massiv widersprechen.
  2. Er reflektiert das Phänomen kollektiver Intelligenz nicht ausreichend. Insbesondere über die Instrumentengattung „Vorhersage- / Entscheidngsmarkt“ sind nachweislich durch bestimmte, ausgeklügelte Vorgehensweisen Ergebnisse möglich, die reine Expertengruppen häufig deutlich übertreffen, wie James Surowiecki in seinem Buch „Die Weisheit der Vielen“ ausführlich darlegt (dessen Arbeit findet sich nicht bei Brennan). Brennan geht zwar grundsätzlich auf diese Phänomene im siebten Kapitel ein (Wunder der Aggregation, Condorcet-Jury- und Hong-Page-Theorem), aber meiner Ansicht nach nicht ausreichend. Denn die genannten Instrumente der Entscheidungs- und Prognosemärkte können weitreichende Erfolge nachweisen.

Fazit: Dieses Buch ist eine Pflichtlektüre für alle, die es ernst meinen mit der Entwicklung der Demokratie. Es bietet zahlreiche und äußerst wertvolle Anregungen, wie wir unsere aktuellen Formen der Demokratie weiterentwickeln könnten, um offensichtliche Schwächen zu überwinden.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Literatur

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Cover
  • Brennan: Eigene Rechte
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