Der Wissenschaftswahn

Liebe Leserin, lieber Leser!

Warum rezensiere ich ein Buch in diesem Blog, dass unser momentanes materialistisches Wissenschaftssystem kritisiert? Was hat das mit einer menschlichen (Betriebs-)Wirtschaft zu tun? Sehr viel: Erstens ist unsere Sicht auf die Welt – zumindest in unserer westlichen Welt – stark geprägt von unserer Wissenschaft und unserem Glauben an sie. Das zeigt sich nicht nur in unserem äußerst eindimensional technokratischen Verständnis „wissenschaftlicher Betriebsführung“, respektive dem „Scientific Management“, in dem der Mensch als Störfaktor penetrant ignoriert wird. Es zeigt sich auch in unserer ebenso traurigen Reduktion vom Unternehmenszweck auf die Gewinnmaximierung als auch in unserem reichlich konservativen Verständnis von „Innovation“: Gemeint sind meistens technische, aber keineswegs soziale Innovationen, was wir gut daran erkennen können, das die meisten Investitionen und Förderungen im technischen Bereich stattfinden und dementsprechend vorwiegend technische Produkte, Prozesse und Geschäftsmodelle innoviert werden, aber so gut wie nie das Management an sich. Da unsere (Betriebs-)Wirtschaft wissenschaftlich fundiert sein will, ist es dringend nötig, sich mit unserem Wissenschaftsverständnis insgesamt kritisch auseinanderzusetzen. Was Sheldrake mit diesem weitreichenden Buch geleistet hat, ist enorm, soviel schon vorab.

Einigen von Euch dürfte Rupert Sheldrake durch seine Theorie der „Morphogenetischen Felder“ bekannt sein, so auch mir. Ich hatte sein Buch „Das Gedächtnis der Natur“ (Erstauflage 1990) interessiert gelesen, es aber als vor-wissenschaftlich nach der Lektüre im Regal verschwinden lassen und mehr oder weniger vergessen. Jetzt, 22 Jahre später, ertappe ich mich Dank seines neuen Werks dabei, selbst materialistischen Vorurteilen erlegen zu sein. Vor allem deshalb, weil Sheldrake an keiner Stelle der 492 Seiten ideologisch wird, sondern immer dem – aus meiner Sicht – wahren wissenschaftlichen Geist verpflichtet bleibt: den Dingen möglichst unvoreingenommen auf den Grund zu gehen. Deshalb hat er mich auch davon überzeugt, dass er wirklich ein Buch für die Wissenschaft geschrieben hat und sich die „… Naturwissenschaften weniger dogmatisch und dafür wissenschaftlicher“ wünscht (S. 16).

Das Buch ist klar und logisch gut nachvollziehbar aufgebaut. Zu Beginn stellt Sheldrake die „Zehn Dogmen der modernen Naturwissenschaft“ dar, die dann im weiteren Verlauf als eigenständige Kapitel auf einen konstruktiv kritischen Prüfstand gestellt werden:

  1. Alles ist mechanischer Natur.
  2. Materie besitzt grundsätzlich kein Bewusstsein.
  3. Die Gesamtheit von Materie und Energie ist immer gleich.
  4. Die Naturgesetze stehen ein für alle mal fest.
  5. Die Natur kennt keine Absichten, Evolution ist ohne Richtung und Ziel.
  6. Biologische Vererbung ist ausschließlich materieller Natur, vermittelt durch das genetische Material.
  7. Der Geist, unser Denken und Fühlen, sitzt im Kopf und ist nichts als Gehirnaktivität.
  8. Erinnerungen sind als materielle Spuren im Gehirn gespeichert und werden beim Tod gelöscht.
  9. Unerklärliche Phänomene wie Telepathie sind reine Einbildung.
  10. Mechanische Medizin ist die einzig wirksame Medizin.
Sheldrake bietet auf diesem Weg eine wahre Fundkiste an Fakten, die unser Bild der Naturwissenschaften ernsthaft in Frage stellen. Da wären zum Beispiel die ewig gleichen Naturgesetze, oder etwas wissenschaftlicher formuliert, die Grundkonstanten. Jeder Gebildete „weiß“, dass die eben fix und nicht variabel sind. Und schon ist man einem Irrtum erlegen. Die Grundkonstanten schwanken und die festen Werte sind keineswegs stabilen, reproduzierbaren Messergebnissen geschuldet, sondern der Arbeit der Metrologen, die nichts weiter machen, als die Messwerte aller Labors weltweit zusammenzutragen und auszuwerten. Aber bitte schön so, dass abweichende Ergebnisse als Messfehler aussortiert werden. Damit nicht genug. Die dann gültigen Messwerte werden gemittelt und im nächsten Schritt nochmals einer Fehlerberreinigung unterzogen. Und weil dann immer noch Schwankungen zwischen den Bestwerten der verschiedenen metrologischen Teams vorhanden sind, werden diese bereits dreifach korrigierten und gefilterten Werte nochmals einem Expertengremium vorgelegt, dass weitere Anpassungen vornimmt und letztgültige Mittelwerte berechnet. Dann endlich, nach dieser Prozedur, sind die Grundkonstanten konstant.

Ein weiteres Beispiel ist unser Gen-Wahn, der zweifelsfrei am besten in dem Buch „Das egoistische Gen“ des britischen Zoologen Richard Dawkins zum Ausdruck kommt. Die Auswüchse dieses materialistischen Hoffnungsschimmers zeigen sich sogar in Forschungsergebnissen zum Wahlverhalten. Zwillingsstudien ergaben, dass eineiige Zwillinge, deren Gen-Material identisch ist, diesselben politischen Überzeugungen zeigen, auch wenn sie unabhängig voneinander aufgewachsen waren. Nun, zunächst denkt sich der Laie: Wow, ist ja enorm. Allerdings wird die Interpretation der Ergebnisse schnell fragwürdig: Wie sollen Gene unser Wahlverhalten steuern, wenn sie lediglich die „Abfolge der Aminosäuren in Eiweißmolekülen vor(geben).“ (S. 217). Und wie sollen sie unser komplexes Verhalten steuern, wenn wir als Menschen mit lediglich 23.000 Genen von deutlich tumberen Lebensformen wie Seeigeln mit 26.000 oder vom Reis mit rund 38.000 Genen überflügelt werden?
Desweiteren veröfflichten Francis Collins, der Leiter des Humangenomprojekts, und 26 weitere wichtige Genetiker 2009 einen Artikel in Nature „über die fehlende Erblichkeit bei komplexen Krankheiten. Darin räumen sie ein, dass die Genetik auch nach siebenhundert veröffentlichten Genomscans und trotz geschätzter Ausgaben von 100 Milliarden Dollar nur eine sehr magere Ausbeute an genetischen Hintergründen von Krankheiten bei Menschen vorweisen kann.“ (S. 224).
Und so ist die gesamte Biotech-Wirtschaft bislang äußerst unwirksam, man könnte eher sagen: Ein Milliardengrab. So stellte das Wall Street Journal in einem Artikel 2004 fest, dass die Branche insgesamt bislang „… nicht nur seit Jahrzehnten Verluste (erwirtschaftet), sondern alles in allem weiterhin jedes Jahr tiefer in die Verlustzone (rutscht).“ (S. 225)
Ach ja – nicht zu vergessen: Dawkins stattet seine „egoistischen Gene“ mit Plänen, Zielen und Absichten aus und belebt somit die Materie durch die Hintertür mit Geist. Tröstlich bleibt für Dawkins nur, dass er damit das Schicksal aller Materialisten teilt, die Materie irgendwie an irgendeiner Stelle heimlich vitalisieren.

Ein Vortrag vom Februar 2012, leider simultan
übersetzt. Habe nichts Besseres gefunden…

Nach seiner konstruktiven Dekonstruktion der 10 Dogmen, folgen noch zwei nicht weniger wichtige und ausführliche Kapitel: Die „Illusion der Objektivität“ und „Die Zukunft der Wissenschaft“.
Wissenschaftler sind Menschen. Und somit nicht nur fehlbar, sondern auch wie alle anderen Menschen durch persönliche Werte, Hoffnungen, Ängste und andere Emotionen sowie damit verbundene Erfahrungen beeinflusst. Wer als Wissenschaftler so tut, als würde er oder sie davon befreit und völlig losgelöst wie Major Tom durch den Weltraum der objektiven Erkenntnis schweben, belügt nicht nur den Rest der Welt, sondern auch sich selbst und ignoriert irrational die Forschungsergebnisse der Psychologie. Die Pseudoobjektivität zeigt sich unter anderem in der entpersönlichten, passiven Wissenschaftssprache, die sogar schon in der Schule gelehrt wird, wie Sheldrake an seinem eigenen Sohn erschreckt feststellte. Flugs führte er eine Umfrage dazu an 172 britischen Schulen durch, was seinen erstaunlichen Forschergeist bestens illustriert. Das Ergebnis verschweige ich hier aus dramaturgischen Gründen.
Eine weitreichende Erkenntnis liegt in der Anwendung des „Erwartungs-“ oder „Rosenthal-Effektes“ auf die Ausbildung von Wissenschaftlern. Dieser Effekt bewirkt, dass unsere Erwartungen unsere Wahrnehmungen in Richtung unserer Erwartungen verändern und damit auch unser Verhalten anderen Menschen gegenüber. Außerdem werden die Leistungen anderer Menschen indirekt beeinflusst. Soweit war mir die Sache bekannt (ich habe diesen Effekt ebenfalls in meinem Buch Feel it! im Kapitel über Intuitionsfallen beschrieben). Überraschend war jedoch folgende Hypothese: Wenn naturwissenschaftliche Studenten über ihre Ausbildungsjahre hinweg immer wieder Standardexperimente durchführen müssen, „deren zu erwartende Ergebnisse wohlbekannt waren“ (S. 400), dann liegt die Vermutung nahe, dass vor allem jene Studenten Berufswissenschaftler werden, denen es am besten gelungen ist, die „korrekten“ Ergebnisse zu reproduzieren. Denjenigen, denen dies nicht gelingt, werden Fehler unterstellt, aber nicht, dass sie eventuell auf neue wichtige Ergebnisse gestoßen sind. Auf diese Weise züchten wir konforme, konservative und wenig inspirierte Wissenschaftler heran, die den jeweils gültigen wissenschaftlichen Dogmen und Grundannahmen (Paradigmen) treu ergeben sind, anstatt diese kreativ wissenschaftlich zu hinterfragen. Das System reproduziert fleißig seinen Konservatismus.
Schließlich dürfte einer der herausragendsten konkreten Vorschläge darin liegen, zukünftig „…ein Prozent des wissenschaftlichen Forschungsetats für Forschungen (zu reservieren), an denen Menschen außerhalb des Wissenschafts- und Medizinbetriebs wirklich interessiert sind.“ (S. 435). Damit würde ein elitäres System endlich demokratisiert und die Schieflage korrigiert, die durch die permanenten Nutzenversprechungen entstehen, die nötig sind, damit Forscher Ihre Forschungsgelder erhalten.

Rupert Sheldrake beeindruckt mich mit seinem durchgängigem kritischen Rationalismus, der sich niemals zu schade ist, die eigenen Wurzeln kritisch zu hinterfragen; er belehrt mich im besten Sinne, indem er seine eigenen Ansichten und Erkenntnisse in die jeweiligen historischen Traditionen stellt; er fasziniert mich durch seinen Pragmatismus zahlreicher konkreter Vorschläge, was wir erforschen könnten, um dadurch unsere Welt ein ganzes Stück besser zu machen (und darin stecken eine Menge Geschäftsmöglichkeiten); er bewegt mich durch seine authentische Art, anstatt sich selbst pseudoobjektiv hinter einer entpersönlichten Wissenschaftssprache zu verstecken.

Fazit: Dieses Buch sollte bereits in weiterführenden Schulen zur Pflichtlektüre werden. Es ist ein Buch, was so ziemlich jeden Menschen in unserer Gesellschaft betrifft, zumal ein guter Teil unseres Lebens auf Wissenschaft basiert. Wer es gelesen und sich mit den Fakten und Argumenten auseinandergesetzt hat, wird danach anders denken als zuvor. Und zwar im umfassenden Sinne vernünftiger und wissenschaftlicher, was sehr wohl bislang angeblich irrationale Aspekte unserer Welt und unseres Seins beinhaltet. Es ist ein perfektes Buch für die Zeit zwischen den Jahren.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Sheldrake, R. (2012): Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat. O.W. Barth, gebunden mit Schutzumschlag, 492 Seiten. 24,99€

Sheldrake, R. (2012): Wissenschaftliche Paradigmen sind keine dauerhaften Wahrheiten. Interview mit Sheldrake zu seinem neuen Buch der Wissenschaftswahn. Homepage von Droemer Knaur.

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