Material Matters
Vor kurzem flatterte mir eine ungewöhnliche Einladung ins Haus: Ein Vortrag des Architekten und Autors Thomas Rau, gemeinsam mit seiner Frau Sabine Oberhuber – in der niederländischen Botschaft. Diese Einladung vom Leiter des Econ Verlags höchstselbst, Jürgen Diessl, nahm ich sehr gerne an. Alleine der Vortrag war inhaltlich und in seiner lockeren, sympathischen und authentischen Art eine Freude. Solchermaßen inspiriert freute ich mich auf die Lektüre ihres Buchs „Material Matters. Wie wir es schaffen, die Ressourcenverschwendung zu beenden, die Wirtschaft zu motivieren, bessere Produkte zu erzeugen, und wie Unternehmen Verbraucher und die Umwelt davon profitieren.“ Wow, was ein Titel!
Material Matters: Obsoleszenz und ihre Geschäftsmodelle
Wer hat sich noch nicht darüber geärgert: Nach viel zu kurzer Zeit gibt ein beliebiges Produkt seinen Geist auf. Man und frau hat dabei nicht selten das Gefühl, dass es sich um eine geplante Maximalhaltbarkeit handelt. Und ja: Wer ein bisschen recherchiert, stößt schnell auf den Begriff der Obsoleszenz, der geplanten Abnutzung. Dahinter steckt ein einfacher Gedanke, der sich zwangsläufig aus unserem aktuellen Wirtschaftssystem zu ergeben scheint: Wenn wir Produkte erzeugen und verkaufen, die gefühlt ewig halten, ist jeder Markt, egal wie groß, irgendwann gesättigt. Das war’s mit dem geforderten Wachstum, unserem golden Kalb, um das wir immer noch gemeinsam herumtanzen, als ob es kein Morgen gäbe.
Interessanterweise war früher tatsächlich manches besser, wie Rau und Oberhuber belegen. Am Beispiel der „Centennial Bulb“ machen die Autor*innen das deutlich: Diese Glühbirne leuchtet seit 1901 ununterbrochen bis heute. Mittlerweile wird sie von einer Webcam 24/7 gefilmt, die ihrerseits schon dreimal ersetzt werden musste. Aus diesem Grunde der Unkaputtbarkeit kamen die seinerzeit führenden Glühlampenhersteller General Electric, Osram Compagnie des Lampes und Philips zusammen und gründeten am 24.12.1924 das Phoebuskartell. Alle Mitglieder verpflichteten sich, „das technische Design so zu modifizieren, dass die Brenndauer einer Glühlampe von nun an nicht mehr als tausend Stunden Brenndauer betrug. … Überschritt deren Brenndauer die durch das Kartell festgelegte Norm, drohten hohe Bußgelder.“ (S. 25) 1000 Stunden versus 1.000.000 Stunden der Centennial Bulb im Juni 2015 (seit dem sie immer noch munter funktioniert).
Natürlich beschränkt sich Obsoleszenz nicht auf Leuchtmittel, sondern findet sich in allen möglichen Produkten eingeschrieben. Überall wo beispielsweise Zähler eingebaute werden können, ist es problemlos möglich, eine exakt definierte Lebensdauer zu ermöglichen, wie zum Beispiel bei Waschmaschinen oder Druckern. Kurzum: Unser Gefühl trügt uns keineswegs, das frühere Produkte deutlich haltbarer waren. Und was passiert mit den Produkten, sobald sie ihren definierten Zenith überschritten haben? Richtig: Sie werden entsorgt. Mit etwas Glück wird einiges davon wieder recycelt, aber längst nicht alles, wie wir wissen, Stichwort Elektroschrott. Und damit sind wir bei den kapitalistischen Geschäftsmodellen der Verschwendung.
- Modell 1: Neu = gerade noch nicht kaputt. Die Obsoleszenz schlägt in all ihren Variationen zu, mit eingebauten Zählern, versteckten Schwachstellen oder der Verwendung ungeeigneter bzw. minderwertiger Materialen.
- Modell 2: Neu = so gut wie veraltet. Dies ist das „Design to be outdated“, was wir alle insbesondere in der Welt mobiler Endgeräte kennen. Die Hersteller erzeugen derart schnell winzige angebliche Innovationen, damit die Konsumenten das Gefühl bekommen, mit dem vorhandenen Produkt nicht mehr auf der Höhe des Fortschritts zu sein.
- Modell 3: Neu = so gut wie unmodern. Hier geht es nicht um Qualitäten des Produkts an sich, sondern um die damit durch PR und Marketing verbundenen Identitätsmerkmale. Ein Produkt wird genutzt, um uns bestimmten sozialen Gruppen zugehörig zu fühlen und uns von anderen abzugrenzen. Was dann nicht mehr modern im Sinne von „in“ oder „hip“ ist, muss ersetzt werden.
Kurz gesagt werden so oder so die Nutzungszyklen der Produkte künstlich verkürzt, um weiteres Wachstum der Hersteller zu ermöglichen. Die Ursachen für unsere verschwenderische Wirtschaft mit massenhafter Materialvernichtung hat also in Summe drei Gründe:
- Wirtschaftsparadigma permanenten Wachstums
- Obsoleszenz, um immer weiter wachsen zu können
- Lineare Wertschöpfung und -vernichtung durch endgültigen Materialverbrauch
Material Matters: Alternativen
Zurecht stellen die Rau und Oberhuber fest, dass die meisten der bisherigen Ansätze zu einer Gegesätzlichkeit von Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit führten: „Unternehmen versus Umweltorganisation, Wirtschaftsministerium versus Umweltministerium, Ökos versus Yuppiies oder Yolos.“ (S. 93). Insofern brauchen wir dringend frische Ansätze, um aus der verstaubten Nachhaltigkeitsecke herauszukommen.
1. Vom Eigentum zum Gebrauch
Die beiden Autor*innen hatten eine geniale Idee im Rahmen einer Neugestaltung ihres Architekturbüros: „Wir möchten von Philips einen Service und kein Produkt erwerben, wir wollen Licht kaufen und keine Lampen – eine Performance und kein organisiertes Problem.“ (S. 97). Kurz: Licht als Service statt Leuchtmittel als Eigentum. Und diese Idee präsentierten Sie sogleich dem Vertriebsleiter von Philips Lightining, Eric Heutinck. Und der guckte verständlicherweise erst mal etwas verdutzt aus der Wäsche. Aber irgendwann begriff er und zog los, um ein Konzept zu entwickeln. Als er stolz damit wiederkehrte, gab es aber noch ein kleines Problem: „Die Stromrechnung geht natürlich auch auf Kosten von Philips. Ihre Lampen arbeiten nicht ohne Strom, so sind sie nun einmal entworfen. Aber wir haben nur Licht bei Ihnen bestellt und sonst nichts.“ (ebend.) Neues Spiel, neues Glück. Am Ende wurden die RAU-Architekten der erste Kunde in diesem Sinne, inklusive Energiekosten, exklusive Maerialkosten. Und siehe da: Der Energieverbrauch sank um mehr als 44%.
Damit war für Philips ein neues Geschäftsmodell entstanden: „Pay per Lux oder Light as a Service (LAAS).“ (S. 99) Der CEO von Philips war so begeistert, dass Philips ab 2020 nur noch Licht und keine Lampen mehr verkaufen will. Chapeau! Daraus entwickelten die Autor’innen dann das Turntoo-Modell: Weder kaufen, noch leasen oder mieten. Die Hersteller bleiben durchgängig Eigentümer des Produkts und sind damit für die Folgen ihrer Handlungen ausnahmslos verantwortlich. Damit wird garantiert, dass sich die Interessen der Produzenten mit denen der Allgemeinheit decken. Zudem ändert sich das Verhältnis zwischen Produzent und Kunde fundamental. Nach Abschluss des Kaufs war die Beziehung zwischen den beiden Vertragsparteien formal abgeschlossen. Bei Product as a Service beginnt bei Vertragsabschluss die Beziehung zwischen beiden Parteien.
2. Turntoo-Geschäftsmodelle
Designed to perform. Durch die Umkehrung des Vertragsverhältnisses und weg vom Eigentum zum Service haben die Produzenten automatisch das Interesse, Ihre Produkte maximal langlebig, sparsam und wiederverwertbar zu gestalten.
Designed to be updated. Hinzu kommt, dass die Produzenten das Interesse haben, ihre Produkte möglichst lange auf den je neuesten Stand bringen zu können, ohne zB neue Leuchtmittel einbauen zu müssen.
Designed for passion. Nun ist es auch mit der künstlichen Erzeugung von Trends und scheinbaren Innovationen vorbei. Denn die Kunden sollen ja nicht jedes Jahr neue Jeans kaufen, weil der alte Schnitt veraltet wirkt. Mud Jeans hat das zB realisiert.
3. Material braucht eine Identität
Ich muss gestehen, das sich noch nie drüber nachgedacht hatte: Material wird auch deshalb verschwendet, weil es ohne Identität ist. Wie bitte? Wenn niemand weiß, von welchem Material wieviel an welcher Stelle verbaut ist, kann es auch nicht effizient wiederverwertet werden. In der Folge entstand die Idee eines Materialpasses als Ausweis der Identität. Und das auch nicht theoretisch sondern praktisch. Denn diesmal entstand die Idee aus einem Auftrag für die Renovierung eines Rathauses, dass möglicherweise nach schon 20 Jahren nicht mehr gebraucht werden würde. Alle Zulieferer mussten zusichern, dass sie ihre Materialen nach 20 Jahren wieder zurücknehmen können. Damit entstand eine weitere geniale Idee:
Gebäude als Materialminen, -depots und -banken. Aus alten Gebäuden können Materialien geschürft werden, alte Gebäude könnten, wenn klar wäre, wo welche Materialien genau verbaut sind, nach Gebrauch als Materialminen verkauft werden. Material kann gezielt in Gebäuden (und sicher auch anderen Produkten) deponiert werden. Und letztlich können die verbauten Materialien auch hinsichtlich ihres Wertes steigen – und entsprächen somit der Idee einer Geldanlage.
Schlussendlich entstand die Madaster-Foundation, ein Katasteramt für Materialien. Dort werden Materialien registriert, so wie Grundstücke im Katasteramt. Was die Voraussetzung gegen Korruption und für geordnete, gerechte Eigentumsverhältnisse ist. „Ziel der Madaster Foundation ist die hunderprozentige Eliminierung von Müll durch die (zentrale) Erfassung aller Materialien.“ (S. 145)
4. Material braucht Rechte
Jetzt scheint es völlig verrückt zu werden – ist aber eigentlich nur folgerichtig. So wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte uns Menschen qua Geburt grundsätzliche Rechte zubilligt, brauchen wir ein ähnliches Vorgehen für Materialien. Das ist zwingend, sobald wir akzeptieren, das Materialien „unverzichtbar sind für unser Wohlergehen…“ (S. 153) Dann macht es keinen Sinn mehr, sie einfach am Ende eins Produktlebenszyklus endgültig zu vernichten, wohlwissend, dass wir nicht ewig neue Materialien gewinnen können.
Zudem führt die Verletzung von noch nicht allgemein anerkannten Materialrechten durch Rohstoffkriege natürlich auch zu Verletzungen von Menschenrechten. Wenn wir also beginnen würden, Materialien ebenfalls mit Rechten auszustatten, um sie solange wie möglich immer neu nutzen zu können, hätte dies höchstvermutlich auch in diesem Sinne einen nicht unerheblichen Kollateralnutzen.
5. Materialerhalt – Das Turntoo-Modell
Die Autoren propagieren überzeugend einen Haltungswandel zum Material: „Man darf es nutzen, aber man hat die Verpflichtung, es für die nachkommende Generation in seiner Nutzbarkeit zu erhalten.“ (S. 161) Damit lehnen sie sich an den Gedanken der Allmende an, die bekanntermaßen seit der Wirtschafts-Nobelpreisträgerin Ellinor Ostrom als hochfunktional angesehen werden, sofern sie bestimmten Regeln folgen.
- Produkt als Service
- Produkt als Materialdepot
- Materialpass
- Madaster
- Universelle Deklaration der Materialrechte
- Material als Dienstleistung
Durch diese Schritte kann eine unendlich verflochtene Wertschöpfungs- und erhaltungskette entstehen, in der wir Material immer wieder und wieder verwenden können. Rau und Oberhuber bringen am Ende dieses neue Wirschaftskonzept gut auf den Punkt:
In der neuen Ökonomie bedeutet „Besitz“ die Bereitschaft, die Rolle eines Vermögensverwalters auszuüben. … Es bedeutet auch nicht „haben“, sondern „sich kümmern um“. (S. 173)
Zu meckern habe ich fast gar nichts an diesem vielleicht bahnbrechenden Buch. Es ist liebevoll und individuell verlegt, der Verlag hat ganze Arbeit geleistet – außer einem mal wieder eingesparten Stichwortverzeichnis. So muss man eben suchen, wenn man einen bestimmten Begriff an verschiedenen Stellen sucht. Nicht so prickelnd, aber zu verschmerzen. Inhaltlich frage ich mich nur eines: Warum haben die Autor*innen nicht ein Kapitel der Verzahnung mit anderen alternativen Ansätzen wie der Gemeinwohlökonomie gewidmet? Dort gibt es schließlich auch hervorragende Ansätze, wie die Idee einer Gemeinwohlbilanz und die dazugehörige über viele Jahre von vielen Menschen Entwickelte Gemeinwohlmatrix. Das war’s dann aber auch.
Fazit: Ein Buch für alle, die nicht nur für eine funktionierende Klimapolitik demonstrieren, sondern auch selber etwas ändern wollen. Je mehr Menschen das Konzept von Turntoo kennen, umso wahrscheinlicher wird die Umsetzung.
Herzliche Grüße
Andreas
Rau, T.; Oberhuber, S. (2019): Material Matters. Econ. Hardcover, 223 Seiten, € 20,-
Bildnachweis
- Beitragsbild: Cover
- Centennial Bulb: Screenshot Website
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns Deinen Kommentar!