Wie viel ist genug?

Liebe Leserinnen und Leser!

Es ist eine gute, wichtige und ebenso leicht wie schwierig zu beantwortende Frage: Wieviel ist genug? Noch vor ein paar Jahren hätte ich die (neo-)liberale und konstruktivistische Position eingenommen: Das muss jeder selbst entscheiden. Mittlerweile sehe ich das anders. Es ist längst nicht mehr damit getan, diese Frage vom Tisch zu wischen, indem man sie als eine absolut private, rein persönliche Angelegenheit betrachtet. Umgekehrt kann es natürlich nicht angehen, dass wir in einer Öko-Bescheidenheits-Diktatur landen, in der wer auch immer der Bevölkerung der Wohlstandsländer seine Meinung aufoktroyiert, dass niemand zwei SUVs á 300PS+ braucht. Also gilt es einen intelligenten Mittelweg zu finden, zwischen Zwang und falsch verstandener Freiheit. Außerdem öffnet sich bei der Frage, wieviel denn genug sei, der historische und kulturelle Zusammenhang: War es schon immer so wie heute? Ist es überall so? Was sagen andere Kulturen zu der Frage? Und wie wurde die Frage in anderen Zeiten beantwortet, ehedem, noch bevor wir uns mit dem „Turbokapitalismus“ in das Hamsterrad des höher-schneller-weiter selbst eingesperrt hatten?

Wenn der Vater mit dem Sohne. Das habe ich noch nicht zwischen die Finger bekommen: Ein Buch, geschrieben von zwei Männern, die zutiefst miteinander verbunden sind, die zwei Generationen abbilden und ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln untersuchen und daraus ihre Schlüsse ziehen.   „Robert Skidelsky wurde 1939 in Harbin, China, als Sohn russischstämmiger Auswanderer geboren; sein Vater betrieb eine Kohlenmine. Mehrmals verlor die Familie ihr Vermögen, zuletzt bei Maos Machtübernahme. Robert Skidelsky studierte Geschichte in Oxford und lehrte als Professor für politische Ökonomie an der Universität Warwick, England.“ (Autorenvorstellung von der Homepage des Verlages). Sein Sohn arbeitet als Philosophieprofessor an der Universität Exeter. Damit haben die beiden zwei unterschiedliche Sichtachsen, die der Fragestellung ihre durchweg beeindruckende Tiefe verleiht.

Als Ausgangspunkt und Zentrum des Buches stellen die Skidelskys fest, dass sich John Maynard Keynes geirrt hat. Erstens wird sich der Kapitalismus nicht einfach selbst überflüssig machen, wir werden nicht automatisch dazu kommen, Dank gesteigerter Produktivität weniger arbeiten zu müssen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Autoren stellen desweiteren klar, dass die Arbeitszeit zwar abgenommen hat, aber längst nicht in dem von Keynes angenommenen Maße. Außerdem haben wir heute die bekannte Situation, dass sich schlecht verdienende Menschen oft zwei Jobs suchen müssen, um über die Runden zu kommen. Zeit für Muße ist ferner denn je, da zudem trotz vieler technischer Hilfsmittel die aufgewendete Zeit für unseren Haushalt seit 1961 sogar zugenommen hat. Zweitens werden wir nicht einfach aufhören, Begierden nachzurennen, die wir entweder selbst entwickelt haben oder die uns die Werbeindustrie einhämmert. Es gibt verschiedene mögliche Ursachen dafür, dass wir weiter shoppen bis zum Umfallen, die alle durchdekliniert werden. Drittens hat Keynes das Bevölkerungswachstum vollkommen unterschätzt. Deshalb leben heute mehr Menschen in Armut, als zu früheren Zeiten.

Beeindruckend ist die folgende Zeitreise durch die Transformation vom Laster der Begierde hin zum ökonomisch positiv besetzten Eigeninteresse: „Der alte Ausdruck „Habgier“ wurde nach und nach durch das farblose „Eigeninteresse“ verdrängt und blieb, wenn überhaupt, nur für pathologische oder kriminelle Methoden des Erwerbs wie Horten oder Betrügen im Gebrauch.“ Diese Verwandlung, klamm und heimlich, ist Teil eines „Faustischen Handels“, den bereits Keynes feststellte: „Die Moral musste auf Eis gelegt werden, bis ein Zustand der Fülle erreicht war, denn mit der Fülle würde ein gutes Leben für alle möglich werden.“ (So die Autoren in Bezug auf Keynes.) Denn zuvor träumte die Menschheit quer durch alle Kulturen von einem Leben ohne Leiden, Ungerechtigkeit und sogar ohne Arbeit.

Aber es reicht nicht, die alte Habgier oder das immer noch aktuelle ökonomische Eigeninteresse durch Streben nach Glück zu ersetzen. Ein Glücksindex ist, wie die beiden überzeugend erläutern, eine weitere Sackgasse. Denn erstens sind die Messungen des Glücks äußerst fragwürdig, weil kaum zuverlässig und exakt. Alleine das Übersetzungsproblem des Begriffs Glück in andere Sprachen bringt erste Schwierigkeiten mit sich. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Glückskurve der letzten Jahrzehnte sonderbar flach bleibt. Nicht nur der gestiegene Wohlstand verpufft wirkungslos, sondern logischerweise auch alle anderen gesellschaftlichen Veränderungen. Oder aber die Messungen reagieren nicht auf verändertes Glücksempfinden. Außerdem gibt es noch weitere unbeantwortete Fragen zur Messmethodik: Was genau bedeuten die quantifizierten Werte auf einer Glücksskala? Damit nicht genug. Was sind die Bezugsgrößen für durchschnittliches Glücksempfinden?
Aber vor allem: Es geht nicht darum, „einfach glücklich zu sein, sondern Grund zum Glücklich sein zu haben. … Denn Glück ist nur gut, wenn es angebracht ist. … Wir wollen die Technokraten des Wachstums nicht verbannen, nur um zu erleben, wie sie durch Technokraten der Glückseligkeit ersetzt werden.“ Denn dann droht Huxleys schöne neue Welt, die ja längst viel mehr ist, als nur eine literarische Dystopie. Prozac und Co. sind dabei, uns fast jede gesunde Trauer zu nehmen, die die Pharmaindustrie zur Depression umdeklariert, um mehr Antidepressiva absetzen zu können (vergleicht dazu →“Neuromythologie“ von Felix Hasler).

Als ob all das nicht schon genug wäre, zerlegen Vater und Sohn im fünften Kapitel „Natürliche oder moralische Grenzen des Wachstums“ auch noch den aktuellen Umweltschutz. Wer bislang damit argumentierte, dass wir unsere Mutter Erde nicht auf Kosten unserer noch ungeborenen Kinder, Enkel und Urenkel ausbeuten und zerstören dürfen, wird sich ein paar unbequeme Fragen stellen lassen müssen. Und wer vielmehr Freund der Tiefenökologie ist, die die Natur nicht um unserer Zukunft willen, sondern um ihrer selbst willen schützen will, wird ebenso ins Grübeln gebracht. Die Autoren finden weder die eine, noch die andere Position überzeugend, sondern stellen klar, dass wir einen dritten Weg brauchen. Denn ihre Analyse beider Standpunkte ist ein argumentatives Schachmatt für deren Vertreter. Diese Alternative, der „Umweltschutz für ein gutes Leben“ basiert darauf, dass die Natur weder ausbeutbare Ressource noch „fremdartige Göttin“ (Gaia) ist. Sie ist vielmehr ein „schlummernder Geist … der stumme Träger desselben Lebens, das durch uns Bewusstsein erlangt hat.“

Um nach der lange Reise durch die menschliche Geschichte eines guten Lebens zu einer greifbaren Antwort zu gelangen, definieren und beschreiben die Autoren die menschlichen, transkulturellen Basisgüter, die wir alle brauchen, um unser eigenes gutes Leben führen zu können. Zunächst klären sie den Begriff an sich. Basisgüter werden durch vier Kriterien definiert:
  1. Basisgüter sind universell. Sie sind transkulturell.
  2. Basisgüter sind final. Sie sind „gut an sich und nicht nur als Mittel zu etwas anderem, das gut ist.“
  3. Basisgüter stehen für sich selbst, sie sind kein Aspekt oder Teil anderer guter Dinge.
  4. Basisgüter sind unverzichtbar. Wer über sie nicht verfügt, erlebt dies als schweren Nachteil.
Im nächsten Schritt listen Vater und Sohn die Basisgüter auf, die sie identifiziert haben:
  1. Gesundheit: „Unter Gesundheit verstehen wir die vollständige Funktionsfähigkeit des Körpers.“ Sie führen eine sehr leicht nachvollziehbare Erläuterung hinzu: Gesundheit bedeutet, „auf glückliche Weise nicht über den eigenen Körper nachzudenken, weil er ein Werkzeug ist, das seine Aufgaben perfekt erfüllt.“
  2. Sicherheit. Darunter verstehen die beiden die „berechtigte Erwartung eines Menschen, dass sein Leben weiterhin mehr oder weniger seinen gewohnten Gang gehen wird ohne Störung durch Krieg, Verbrechen Revolution oder größere gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche.“
  3. Respekt. „Jemandem Respekt zu erweisen bedeutet, druch eine förmliche Geste oder auf andere Weise zu zeigen,d ass man seine Ansichten und Interessen für beachtenswert hält, für etwas, das man nicht ignorieren oder mit Füßen treten darf. Respekt impliziert nicht Übereinstimmung oder Zuneigung: Man kann auch einen Feind respektieren.“
  4. Persönlichkeit. Es ist „die Fähigkeit, einen Lebensplan zu entwerfen und umzusetzen, der die eigenen Vorlieben, das eigene Temperament und die eigenen Vorstellungen, was gut ist, widerspiegelt.“
  5. Harmonie mit der Natur. Diesem Basisgut widmeten die beiden einen ausführlichen Abschnitt, in dem sie klarstellen, dass es weder darum geht, eine ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse in den Umweltschutz zu verlängern (gewissermaßen ein Sparprogramm für zukünftige Generationen), noch um den Ansatz der Tiefenökologie, die der Natur einen „Wert an sich“, unabhängig von uns Menschen zuspricht. Schließlich kennt die Natur diese Wertung nicht. Sie zerstört sich auch selbst, wie jedes Kind weiß, dass sich anfängt mit Dinos zu beschäftigen. In Harmonie mit der Natur befinden wir uns, wenn wir sie nicht zweckrationalisieren und gleichzeitig klar haben, dass sie aus unserer menschlichen Sicht einen „Wert an sich“ darstellt. Und das wir – ganz einfach und universell – Teil von ihr sind.
  6. Freundschaft. Hier meinen die beiden „alle festen, von Zuneigung getragenen Beziehungen“ – also auch familiäre Bande. Denn zurecht erklären sie, dass alle familiären Beziehungen immer auch eine Wahlfreiheit einschließen: „…ab einem bestimmten Punkt muss man daran arbeiten, Mutter oder Schwester zu sein…“ (kursiv im Original). Am deutlichsten wird das bei der Wahl des Ehepartners, der erst durch die Wahl zum Familienmitglied wird. Umgekehrt weisen auch nichtfamiläre Bindungen häufig ein großes Maß an Verbindlichkeit auf.
  7. Muße. Sie ist nicht passives Abhängen, sondern eine aktive Tätigkeit um ihrer selbst willen, sie ist kein Mittel zu etwas anderem. Sie „zeichnet sich durch die Abwesenheit von äußerem Zwang“ aus.

Die beiden sprachgewaltigen Skidelskys besitzen die Größe, trotz ihres eigenen beeindruckenden Formats das Schlusswort an einen vielleicht noch größeren Visionär abzutreten: „In dem Augenblick, in dem wir uns die Freiheit nehmen, das Ergebnis der Gewinnprüfung eines Buchhalters in den Wind zu schlagen, fangen wir an, unsere Zivilisation zu verändern.“ – schrieb John Maynard Keynes bereits 1933. Vater und Sohn fügen nur noch lapidar hinzu: „Die Zeit für eine solche Veränderung ist mehr als reif.“

Fazit: Dieses Buch ist jetzt schon ein Klassiker. Es ist kein Zufall, dass die beiden Autoren zwei Generationen angehören und schon durch ihr blankes Sein einen größeren Zeithorizont abbilden, als ein einzelner Autor jemals dazu in der Lage wäre. Dieses Buch sollte Bestandteil unserer grundlegenden Bildung werden, es gehört in jeden Haushalt. Auch wenn sicher nicht alle Willens sein werden, der langen Reise der Skidelskys zu folgen. Aber die Frage und die Antwort darauf, wie viel genug ist, betrifft jeden.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Skidelsky, R. und E. (2013): Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. Verlag Antje Kunstmann. Gebunden, 280 Seiten. 19,95 €

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