Die Weisheit der Vielen
Liebe Leserinnen und Leser,
wir leben in einer Demokratie und fühlen uns darin vermutlich wohler, als in jeglichen Spielarten totalitärer Systeme. Wir sind zu Recht stolz darauf, von keinem despotischen, egomanischen Herrscher tyrannisiert zu werden, sondern unser Leben mittels demokratischer Prinzipien zu gestalten und steuern. Sicher gäbe es viel zu kritisieren, bis hin zur Frage, ob wir überhaupt in einer echten Demokratie leben. So oder so, offensichtlich gibt es keine Einzelperson und nicht einmal eine kleine Gruppe von Menschen, die alleine bestimmen, wo es langgeht. So weit so gut. Hier vertrauen wir also seit geraumer Zeit der Weisheit der Vielen, ohne dies je groß hinterfragt zu haben. Interessant ist jedoch: In unseren Unternehmen handeln wir ganz anders. Meistenteils herrscht eine kleine Gruppe oder sogar ein Alleinherscher im Rahmen einer antidemokratischen Struktur und Kultur. Die Weisheit der Vielen wird ersetzt durch eine magische Genialität einiger Weniger oder Alleiniger, die mehr zu leisten vermögen, als die Vielen (dazu mein Artikel „Das Demokratievakuum„). Diese Schräglage und vor allem: Der Wunsch, die Weisheit der Vielen noch besser als bisher nutzbar zu machen, hat mich veranlasst, Surowieckis Werk zum zweiten Mal zu lesen. Es hat gelohnt. Wieder.
Das Buch erschien in der deutschen Erstauflage bereits 2007 und trotzdem ist es aktueller denn je. Vor ein paar Jahren war es noch nahezu vollkommen utopisch, dass die Geschäftsführung oder der Vorstand eines Unternehmens zentrale Entscheidungen gemeinsam mit der Belegschaft fällt. Allmählich, wenn auch in schneckengleichem Tempo, findet ein Umdenken statt (ich wurde beispielsweise 2012 erstmalig mit einer demokratischen Strategieentwicklung beauftragt). Außerdem steigt der Druck im Kessel der Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen. Gemäß des jüngsten Gallup Engagement-Index für 2012 hat die Anzahl der Mitarbeiter in Deutschland, die bereits innerlich gekündigt haben, um Neun Prozent zugenommen. Dienst nach Vorschrift schieben 61 Prozent. Und nur 15 Prozent unserer Mitarbeiter sind hoch motiviert. Eine der zentralen Ursachen dieser zerstörerischen Demotivation liegt in der mangelnden Möglichkeit, die Arbeit und das Unternehmen mitzugestalten. Damit sind wir bei der Weisheit der Vielen.
Surowiecki hat sein Buch zweigeteilt. Im ersten Teil stellt er umfassend die Bedingungen vor, um überhaupt von einer Weisheit der Vielen sprechen zu können. Schließlich kennen wir alle auch, wenn nicht sogar meist das Gegenteil einer tumben Masse, die wir schnell als radikalisierten Mob wahrnehmen – zu Recht. Es braucht mindestens folgende Bedingungen:
- Vielfalt
- Unabhängigkeit
- Dezentralisierung
- Bündelung
Die Vielen müssen zunächst einmal unterschiedlich sein. Es bedarf also einer möglichst großen Vielfalt der Beteiligten: Männer, Frauen, Junge, Alte, unterschiedliche Nationalitäten, Ausbildungen, Charakter, innere Haltungen und dergleichen mehr. Der Hintergrund dafür ist ebenso einfach wie nachvollziehbar. Ist eine Gruppe von Menschen sehr ähnlich, neigt sie dazu, schnell blinde Flecken zu entwickeln und sich bewusst oder unbewusst ihrer Sache zu sicher zu sein. Die Folge ist ein „Gruppendenken“, das alternative Sichtweisen, Lösungen, Erkenntnisse unwahrscheinlich erscheinen lässt.
Auch deshalb ist die unabhängige Meinungsbildung wichtig. Damit kollektive Intelligenz entsteht, dürfen wir nicht in einen Herdentrieb verfallen, der uns Lemmingen gleich die Klippe hinunter treibt, nur weil all die anderen auch springen. Genau dieser Herdentrieb ist eine der Ursachen von Börsencrashs. Wenn zuviele Anleger nicht ihre eigene Meinung über den zukünftigen Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens (oder was auch immer) zur Entscheidungsgrundlage machen, sondern Ihre Annahme über die Meinung der anderen Anleger. Das führt zu einem sich aufschaukelnden System, bei dem sich zunehmend mehr Akteure der Masse anschließen, weil die ja nicht irren kann (ihr kennt sicher die Volksweisheit zum tumben Mob: „Eine Million Fliegen können nicht irren…“).
Dezentralisierung steht in einem engen Zusammenhang zu den ersten beiden Bedingungen der Vielfalt und Unabhängigkeit. Sie führt tendenziell zu einer Spezialisierung und damit zu unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen. Außerdem fördert sie eine unabhängige Meinungsbildung. Allerdings bringt sie für die Weiseheit der Vielen auch ein großes Problem mit sich: Daten, die für das ganze Unternehmen äußerst wertvoll sind, stehen nicht automatisch allen Betroffenen zur Verfügung. Dies hat bereits vor 25 Jahren Karlheinz Kaske, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Siemens, gut auf den Punkt gebracht: „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß, dann wäre Siemens unschlagbar.“ Auch wenn der Schluss der Unschlagbarkeit ziemlich fraglich ist, so ist die Formel „Wenn x wüsste, was x weiß“ genau das, was die vierte Bedingung ausmacht.
Bündelung von Daten: Nur wenn alle Beteiligten wissen, was die anderen wissen, werden die Vielen tatsächlich gemeinsam intelligent. Das klassische Beispiel dafür sind Preise. „Aus diesem Grund ist paradoxerweise gerade die Bündelung – die ja auch als … Form von Zentralisierung verstanden werden könnte – für den Erfolg der Dezentralisierung von aller größter Bedeutung.“ (S. 72*)
Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, stellt sich die nächste Frage: Für welche Aufgaben ist die Weisheit der Vielen überhaupt nützlich? Surowiecki arbeitet drei grundsätzliche Problem- oder Aufgabentypen heraus:
- Kognitionsprobleme – das sind Aufgaben, für die es definitive Antworten geben wird, wenn auch nicht zwingend eine einzige richtige Antwort. Ein gutes Beispiel des Autors: „Was ist der beste Standort für das neue öffentliche Schwimmbad?“
- Koordinationsprobleme – hier geht es darum, dass Gruppenteilnehmer eine Antwort darauf finden, wie sie ihr Verhalten koordinieren können: „Wie finden Käufer und Verkäufer zusammen, wie organisieren Unternehmen ihre Geschäftsaktionen?“
- Kooperationsprobleme – dieser Typ fokussiert die Zusammenarbeit im weitesten Sinne, zum Beispiel Steuerbegleichungen, Umgang mit Umweltverschmutzungen oder ein Verständnis über faire Löhne und Gehälter (ein aktuelles Beispiel ist die Schweizer Volksabstimmung zur Begrenzung von Managergehältern).
Im zweiten Teil untersucht Surowiecki verschiedene Anwendungsfelder kollektiver Intelligenz: Verkehr, Wissenschaftsbetrieb, Kleingruppen wie Komitees oder Geschworene, Unternehmen, Märkte und letztlich Demokratien. Leider hat diese Ordnung keinen durchgängig starken inneren Zusammenhang, folgt keiner unmittelbar ersichtlichen Logik. Nichtsdestotrotz schafft es Surowiecki mit diesen Kapiteln, die zuvor herausgearbeiteten Bedingungen kollektiver Intelligenz weiter zu vertiefen und noch plastischer zu machen.
Eine Stärke des Buches ist auch gleichzeitig seine größte Schwäche. Surowiecki hat dankenswerter Weise ein Menge an Fallbeispielen gefunden und stellt sie – für meinen Geschmack – leider etwas zu ausführlich dar. So wurde ich nicht nur beim zweiten Lesen, sondern auch schon beim ersten Mal ungeduldig, ob der vielen Details, die für das Wesentliche nicht von Bedeutung sind.
Überrascht hat mich bei aller Differenziertheit und Tiefe des Buches eine gewisse Naivität hinsichtlich der Lösung nichttrivialer Probleme. Einerseits stellt Surowiecki die berechtigte Frage, warum wir uns an die Vorstellung klammern, das uns der richtige Experte retten wird? Aber dann folgt etwas Sonderbares: „Und warum ignorieren wir die Tatsache, dass ein gutes Resultat dabei herauskommt, wenn wir einfach nur den Mittelwert der Schätzungen in einer Gruppe errechnen.“ Diese Mittelwertslogik funktioniert prima bei den beschriebenen Kognitionsproblemen, zum Beispiel wenn zukünftige Absaztzahlen vorhergesagt werden sollen. Wenn wir aber zukünftige Szenarien entwickeln wollen, wozu die Weisheit der Vielen ja bestens geeignet wäre, ist der Prozess des Mittelns ausgesprochen sinnlos.
Ähnlich verwunderlich ist Surowieckis Einschätzung, dass Managementvordenker, die selbstverantwortliche Teams anstelle von Controllern und Managern oder kundenorientierte Neugestaltungen von Unternehmen fordern und empfehlen, utopische Theoretiker seien. Ganz offensichtlich hat Surowiecki hier seine Hausaufgaben nicht gemacht. Dabei würde es das Buch noch wertvoller machen, wenn genau diese immer wieder aufs Neue geäußerte Kritik ihrer Haltlosigkeit überführt würde. Gute Beispiele selbstorganisierter und agiler Unternehmen sind CPP Studios, dm-drogerie markt, it-agile, Mondragon Corporation, Morning Star Company, Semco, Svenska Handelsbanken, taz, Vollmer&Scheffczyk, W.L.Gore. Das Neue ist also längst erprobt, quer durch alle möglichen Branchen und Länder. Die durchweg positiven Ergebnisse sind ausgesprochen belastbar. Wer das Gegenteil behauptet, ist entweder unwissend oder verschweigt etwas. Und hat meistens Angst, die eigene bisherige, liebgewonnene Rolle des Geschäftsführers, Vorstands, Bereichsl- oder Abteilungsleiters loszulassen, neu zu denken und zu gestalten.
Fazit: Dieses Buch ist schon jetzt ein Klassiker, nicht nur wegen seines griffigen Titels. Es bietet reichlich Stoff für eine intenisve und lehrreiche Auseinandersetzung, wie kollektive Intelligenz nutzbar gemacht werden kann. Es ist ein Highlight für alle, die die Weisheit der Vielen für eine bessere Zukunft nutzen wollen. Letztlich betrifft es jeden, denn das Wohl unserer Gesellschaft, nicht nur unserer Wirtschaft oder einzelner Unternehmen ist bei einer intelligenten Masse besser aufgehoben, als bei selbstüberheblichen Expertokraten.
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
Surowiecki, J. (2007): Die Weisheit der Vielen. Weshalb Gruppen klüger sind als Einzelne. Goldmann. Paperback, 384 Seiten. Gebraucht zwischen 9,- und 18,-€
* Die Seitenangabe ist leider relativ sinnlos, womit mir ein interessantes neues Zitations-Problem aufgefallen ist: Wie zitiert man in E-Books eindeutig? Die Seite 72 bezieht sich auf eine bestimmte Schrifttpye und -größe und die Tatsache, dass ich mein Tablet hochkant hielt. Im Querformat wäre es Seite 142 gewesen…
Hallo Andreas,
nach Deinem Beitrag werde ich mir das Buch jetzt doch mal holen. Mit diesen Anmerkungen zusammen wird es ein Lesevergnügen 🙂
BG, Jan
P. S.: Beim Kindle nutze ich zum Zitieren die Position (engl. location; siehe http://booksprung.com/how-long-is-a-location-in-a-kindle-ebook) oder die Abschnittsangabe.
Hi Jan,
vielen Dank für Deine Rückmeldung. Schön, dass Dich meine Rezi zum Kauf und Lesen animiert hat. Und vielen Dank für den Zitationstipp, schau ich mir an.
Dir einen schönen Tag, trotz des irrsinnigen Wintereinbruchs kurz vor Frühlingsbeginn.
Herzlich,
Andreas