Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt

Mark Lambertz kenne ich schon ein Weilchen. Vor allem als beseelten und leidenschaftlichen VSMler. Nun erschien in diesem Jahr sein bereits drittes Buch über das Viable System Model. Abgesehen davon, dass er sein neuestes Werk diesmal in einem regulären Verlag und nicht mehr über einen Selfpublisher Verlag publizierte, steht gleich noch eine Premiere an: Bislang trat er als alleiniger Autor auf, dieses Mal hat er gleich zwei Professoren als Mitautoren gewonnen: Peter Gomez von der St. Gallener Hochschule und Timo Meinhardt von der Handelshochschule Leipzig.

Wer sich zumindest schon ein wenig mit dem Viable System Model von Stafford Beer befasst hat, weiß: Das ist starker Tobak. Reichlich abstrakt und auf den ersten Blick sehr technokratisch wirkend, ist es alles andere als leichte Kost. Selbst für systemtheoretisch fundierte Menschen wie mich ist es vielmehr eine echte Herausforderung. Die liegt aber nicht darin, das theoretische Konstrukt zu verstehen, sondern dessen praktischen Nutzen zu durchdringen. Und so war und ist die Buchreihe von Mark auch eine Evolution hin genau zu diesem Aspekt: Wie kann das VSM gewinnbringend in Organisationen und deren Veränderungsprozessen angewendet werden?

Mark hatte sich bereits mit seinem zweiten Buch zum VSM, Freiheit und Verantwortung für intelligente Organisationen, auf den Weg gemacht, genau diese praktische Bedeutung des VSM herauszuarbeiten. Das war ihm seinerzeit auch definitiv schon besser gelungenen, als in seiner Buchpremiere. Allerdings blieb auch in diesem zweiten Buch immer noch eine Menge schwer verständlich. Und so liegt die Vermutung nahe, dass es diesmal endlich gelingen sollte, das VSM als äußerst nützliches Werkzeug zu beleuchten. Soviel sei verraten: Das ist definitiv gelungen. Achtung: Ich werde in dieser Rezension nicht auf die Grundlagen des VSM eingehen, sondern auf andere Aspekte. Allen, die das VSM nicht kennen, empfehle ich vorher die Rezension des oben erwähnten letzten Buchs von Mark.

Mit den beiden Koautoren Peter Gomez und Timo Meinhardt hat Mark den Leser*innen und sich selbst einen Gefallen getan, der allerdings seinen Preis hat. Aber dazu später mehr. Gomez ist mir bereits durch sein empfehlenswertes Buch Vernetztes Denken: Unternehmen ganzheitlich führen bekannt, mit dem er schon 1991 gemeinsam mit Gilbert Probst einen hilfreiches systemtheoretisches Instrumentarium für Veränderungsprozesse bereitstellte. Meinhardt, Inhaber des Dr. Arend Oetker Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung war mir neu, machte aber in diesem Buch ebenfalls eine durchweg kompetente Figur. Und jetzt ab ins Buch:

Das Thema wird in sechs Kapiteln behandelt:

  1. Reflexion in Zeiten des digitalen Wandels
  2. Die Landkarte des reflektierenden Praktikers
  3. Die normative Sicht: Der sinnstiftende Wertbeitrag
  4. Die strategische Sicht: Der Weg in die Zukunft
  5. Die operative Sicht: das funktionierende Geschäft
  6. Verantwortungsvoll führen: Mit der Landkarte ins Gelände

Diese Gliederung und Struktur hat eine große Klarheit und ist ein enormer Entwicklungsschritt seit Marks letztem Buch mit viel zu vielen Kapiteln. Gleich zu Beginn bin ich dann allerdings darüber gestolpert, dass – mal wieder – ein undifferenziertes Verständnis von Intuition wiedergegeben wird. Und das auch noch widersprüchlich. „Dieses Beispiel zeigt, dass die … Intuition in komplexen Situationen oft kein guter Ratgeber ist.“ (S. 9). Dabei wurde im Beispiel, dass diesem Urteil zugrunde liegt, eben mal der gesunde Menschenverstand mit Intuition verwechselt (Kontrolle als Antwort auf Komplexität). Das passt insofern, als das später auf den Seiten 102 und 198 Intuition plötzlich in ihrer Zweckmäßigkeit korrekt erkannt wird: „… wenn ein Problem nicht logisch oder analytisch korrekt zu lösen ist.“ (S. 102) – was ja in komplexen Situationen zumeist der Fall ist. Und: „… nicht nur das explizite Wissen, sondern auch das implizite Wissen, das nur durch Intuition zugänglich ist, zu erschließen.“ (S. 198) – Genau! Diese kritische Bemerkung ist insofern wichtig, als das wir mit unserer linear-logisch-kausalen Rationalität in komplexen Systemen schnell überfordert sind. Intuition ist da keineswegs ein Garant für richtige Entscheidungen – aber sie ermöglicht seit über vier Jahrzehnten immer wieder empirisch belegt wesentlich schnellere Mustererkennungen als unser Verstand. Und insofern gilt: Keine Agilität ohne Intuition und überhaupt, dass wir gerade in professionellen Kontexten gut daran tun, auch die Intuition ins Entscheidungskalkül einzubeziehen (Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen).

Noch wichtiger ist kurz darauf eine klare Positionierung der Autoren für eine liberale Wirtschaftsordnung. Damit ist die Linse definiert, durch die das Sujet betrachtet und erkundet wird. Im ersten Kapitel werden die leitenden fünf „Denkmuster für die verantwortungsvolle Führung des Wandels“ vorgestellt:

  1. Die optimale Vereinfachung von Komplexität
  2. Die Perspektive der russischen Puppen
  3. Die Einheit von Freiheit und Verantwortung
  4. Im Zentrum der Mensch
  5. Die ganzheitliche Erfolgsmessung.

Das dritte Denkmuster stellt die „Weltsicht (dar), wie sie in diesem Buch vertreten werden“ (S. 33) „Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft, Respekt vor privatem Eigentum, freier Wettbewerb und Mut zum Risiko.“ (ebnd.) Das klingt nach der auch schon zuvor erwähnten liberalen Wirtschaftsordnung. Interessanterweise meinen die Autoren, „ideologische Strömungen (gewinnen) an Einfluss, die im „(neo)kapitalistischen“ System des Unternehmertums eine ungerechtfertigt Bereicherung einiger Weniger zulasten der breiten Bevölkerung sehen. Entsprechend werden die unternehmerischen Freiheiten schrittweise eingeschränkt.“ (S. 15) Das ist so formuliert, als ob diese ungleiche Einkommens- und Vermögensdynamik ein Fantasiegespinst links-ideologischer Kommunisten wäre, die sich die DDR zurückwünschen. Und inwiefern unternehmerische Freiheiten aktuell mehr eingeschränkt als erweitert werden sollen, bleiben die Autoren schuldig. Ich sehe im Gegenteil massive Lockerungen vorheriger Einschränkungen, die weltweite Konsequenzen zeitigen werden: Stichwort Amazonien und Alaska oder ganz aktuell das Versagen der Klimakonferenz durch alle Staaten, die eben keine Einschränkungen vornehmen wollen was bestens zum deutschen Klimapaket mit seinen nicht mal halbgaren Maßnahmen passt etc. Für mich trübt diese Position die Glaubwürdigkeit von angeblicher unternehmerischer Verantwortung im Kontext des System 5, das die normative Sicht des sozialen Systems darstellt und somit die ethischen Grundlagen für Entscheidungen schafft (S. 75). Das ich damit nicht ganz falsch liege, wird am Ende des Buches deutlich.

Mark Lambertz

Die Übersetzung des theoretischen Konzepts des VSM in die organisationale Praxis wird durchgängig über verschiedene wiederkehrende Schritte erarbeitet: Die jeweiligen Teilsysteme des VSM werden der Reihe nach von oben nach unten duschdekliniert (System 5, 4 und 1-3*) und jeweils anhand der fiktiven Machine Ltd. und teils einiger realer Fallbeispiele illustriert. Gegen Ende werden die echten Fallbeispiele umfassender bis hin zu einer detaillierten Analyse eines Softwareherstellers durch die Brille des VSM. All das hilft, um den praktischen Nutzen des VSM immer klarer zu erkennen und besser zu verstehen. Die verschiedenen Aufgaben der jeweiligen Teilsysteme 1-5 werden auf diese Weise immer klarer und damit auch die diagnostische Bedeutung des VSM. Erstaunt hat mich dabei, dass an keiner Stelle auf die JELBA Werkzeug & Maschinenbau GmbH & Co. KG eingegangen wird, die ja aktuell das VSM in ihrer Transformation anwenden, worüber Carola Roll von Jelba bei der kommenden #NKNA20 berichten wird: „Ein Maschinenbauer auf dem Weg in die Selbstorganisation.“

Überraschend war im dritten Kapitel über „Die normative Sicht: Der sinnstifendte Wertbeitrag“ eine umfassende Auseinandersetzung mit dem unternehmerischen Purpose und dem Gemeinwohlbeitrag. Dabei halten die Autoren unmissverständlich fest:

„Unternehmen tragen positiv oder negativ zum Erhalt, der Fortentwicklung oder auch der Zerstörung des Gemeinwesens bei.“ (S. 106).

Das ist eine klare Ansage und darauf basierend ist es dann nur folgerichtig, dass sich das System 5 eines Unternehmens fortlaufend intensiv genau damit befasst. Praktisch kann dies durch den Einsatz der Public Value Scorecard erfolgen, die dezidiert vorgestellt wird. Ein vielversprechender Ansatz, möchte mensch meinen. Der dann allerdings nach diesem wortreichen Kapitel am Ende des Buches fraglich erscheint, wenn plötzlich allen Ernstes ein ehemaliger CEO von Nestlé („Gigant der Skandale„, SZ, 2019) und Sheryl Sandberg von Facebook (sic!) zitiert werden – und zwar unter der Überschrift „Auf Werte und Prinzipien gründende Führung sichert geschäftlichen Erfolg und gesellschaftliche Legitimation.“ (S. 238). Wie bitte? Das Beste aber ist das Zitat des ehemaligen Nestlé CEO Helmut Maucher: „Die wichtigste soziale und ethische Verantwortung der Unternehmen ist es, langfristig am Markt und im Wettbewerb erfolgreich zu sein und damit den Ertrag des Unternehmens nachhaltig zu sichern.“ (ebnd.) – Damit sind wir vollständig bei Milton Friedman und seinem Diktum „The business of business is business.“ Und wo genau ist da das Gemeinwohl? Und was hat Facebook dort verloren, nach Cambridge Analytica, Fake Wahlwerbung, Datenskandalen und Cleanern, die auf den Philippinen ausgebeutet und durch all die menschlichen Abgründe traumatisiert werden, die sie manuell löschen sollen? Nestlé und Facebook als Beispiele für die ethisch-normative Funktion des System 5? What??

Und wenn wir schon beim Gemeinwohl sind: Das lässt sich angeblich „… weder durch staatliche Eingriffe noch durch privatwirtschaftliche Initiativen… “ steuern (S. 42). Da bin ich dann doch etwas erschüttert. Mein plakatives, mantrahaftes Beispiel dafür, wie sachlich unhaltbar diese Aussage ist: Die staatliche Abschaffung der Sklaverei und Kinderarbeit durch entsprechende Gesetze. Wenn das nicht dem Gemeinwohl zuträglich war, dann weiß ich auch nicht mehr. Auch an dieser Stelle zeigt sich die eingangs transparent gemachte (neo)liberale Grundhaltung, die vereinzelt immer wieder an verschiedenen Stellen wie den hier zitierten klar sichtbar wird. Da dies bislang – wenn ich mich recht erinnere – bei Marks vorherigen VSM Büchern nicht auftauchte, scheint mir das den anderen Autoren Gomez und/oder Meinhardt geschuldet. Allen Leser*innen bleibt überlassen, wie sie sich zu derartigen Aussagen und Haltungen positionieren und wie sie selbst dazu stehen. Ich halte sowohl die angebliche Unmöglichkeit der Steuerung von Gemeinwohl durch staatliche Eingriffe genauso für Nonsens, wie die erwähnten Unternehmensbeispiele als Illustration für das System 5. Abgesehen davon ist die Darstellung und Erläuterung des VSM durchweg gut gelungen, auch wenn natürlich immer noch Fragen offen bleiben, zum Beispiel wieso der Purpose allen Ernstes in eine Formel gepackt wird (P = M x PV) und was das sagen soll.

Abschließend noch ein Wort zur Ausstattung: Das Buch kommt mit einem Hardcover und einem einerseits hochwertig anmutenden Papier, dass in seinem Perlmuttglanz andererseits Zweifel an der Nachhaltigkeit aufkommen lässt. Im Impressum finden sich keine Informationen, wie bei anderen Verlagen zur Papierherstellung. Interessant bei einem Buch, bei dem es immer wieder um die Verantwortung von Unternehmen für das Gemeinwohl geht.

Fazit: Alle, deren berufliche Aufgabe darin besteht, die Lebensfähigkeit einer Organisation aufrechtzuerhalten oder einen Beitrag dazu leisten, sollten dieses Buch gründlich durcharbeiten. Von den teils massiv widersprüchlichen Beispielen á la Nestlé und Facebook braucht sich niemand abhalten zu lassen, auch wenn sie das Bild leider trüben.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Lamberz, M.; Gomez, P. und Meinhardt, T. (2019): Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt. Haupt Verlag. Hardcover, gebunden, 287 Seiten, € 39,-

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