Neue Arbeit, Neue Kultur

Sicherlich hat sich schon der eine oder die andere gewundert, warum hier in diesem Rezensionsblog der Klassiker der New Work Literatur noch nicht besprochen ist. Hat der Zeuch seine Hausaufgaben nicht gemacht? Der Hintergrund ist ziemlich simpel: Ich hatte das Buch schon vor einigen Jahren gelesen, es aber nicht mehr so gut in Erinnerung, dass ich es hier mit gutem Gewissen hätte rezensieren können. Nach dem zweiten Lesedurchlauf hier nun endlich die Rezension.

Wer sich auch nur halbwegs professionell mit der Zukunft der Arbeit befasst, stolperte früher oder später über den Begriff Neue Arbeit, bzw. New Work. Und da gibt es, ganz ohne Vertun, einen Autoren, der diesen Begriff in die Welt gebracht und sich über Jahrzehnte tiefgreifend damit beschäftigt hat: Frithjof Bergmann. 1930 in Sachsen geboren, legte Bergmann einen Lebenslauf hin, der so ziemlich jede (Erwerbs)Biografie von Generation Z Vertreter*innen spießig wirken lässt: Nach einem Studienjahr in Oregon blieb er in den USA und schlug sich mit verschiedensten Tätigkeiten durch und zog sich sogar – Walden sei Dank – als Selbstversorger in die Natur zurück. Was dann auch durchaus Auswirkungen auf sein Verständnis von Freiheit und Arbeit hatte, wie er selbst schrieb. 

2004 erschien Neue Arbeit, Neue Kultur auf Deutsch und seit dem noch nicht auf Englisch, obwohl das Manuskript in Englisch verfasst war (was sich übrigens ändern wird, aktuell wird daran gearbeitet, die englische Version zu veröffentlichen, um endlich den internationalen Markt zu erschließen). Seit der Originalausgabe erschienen fünf weitere Auflagen, so dass die aktuelle Version von 2017 die sechste Auflage ist. 

Bergmann 20014 - NANKDas Buch ist nach der Einleitung in sechs Kapitel unterteilt: 

  1. Der Zustand nach dem kalten Krieg
  2. Das Lohnarbeitssystem
  3. Arbeit, die wir wirklich wirklich wollen
  4. Die Wirtschaftsform der Neuen Arbeit
  5. Das Finden der Arbeit, die wir wirklich wirklich wollen
  6. Das Leben und die Arbeit, die wir wirklich wirklich wollen

Alleine aus diesen Kapiteltiteln geht hervor, dass das ursprüngliche Konzept um Welten umfassender ist, als die Light Versionen diverser New Work Evangelisten. Die philosophische Ausbildung Bergmanns ist die meiste Zeit über ebenso deutlich spürbar, wie seine über Jahrzehnte gewachsene praktische Erfahrung mit der Entwicklung eines neuen Arbeitsverständnisses. Dabei begann alles, wie Bergmann schrieb, nicht leise und schleichend, sondern mit einem Paukenschlag. Und die Rahmenbedingungen könnten aktueller nicht sein!

In den frühen 1980ern kam es in der US amerikanischen Autostadt Flint, die laut Bergmann mit Wolfsburg vergleichbar sei, aufgrund einer großen Automatisierungswelle (sic!) zu Massenentlassungen. Mit einer Gruppe von Freunden unterschiedlichster Couleur tat sich Bergmann zusammen und gründete das erste Zentrum für Neue Arbeit, um aufzuzeigen, dass es eine Alternative zu dieser Entlassungswelle gäbe. Und die bestünde kurz dargestellt darin, dass die Arbeiter*innen (ja, es gab auch Frauen!) in der einen Jahreshälfte ihrer bisherigen Arbeit nachgehen sollten und sich in der zweiten darum kümmern, im ersten Schritt herauszufinden, was sie „wirklich wirklich wollen“, also ihre Talente und „Wert- und Wunschvorstellungen“ herauszuarbeiten, und zwar unabhängig von ihrer aktuellen Qualifikation (was hätte wohl der Siemens Vorstand gesagt, wenn man ihm das im Zuge der Massenentlassungen in der Gasturbinensparte vorgeschlagen hätte?). Könnten solche oder ähnliche Vorschläge nicht auch im Rahmen der aktuellen Digitalen Transformation interessant sein?

Über diese Situation der Massenentlassungen hinaus kam Bergmann zu dem wichtigen und immer wieder erwähnten Schluss, Arbeit als „milde Krankheit“ zu bezeichnen, als etwas, das einen nicht umbringt, über das man aber froh ist, wenn es endlich vorbei ist (oder stehst Du auf triefende Nasen und Magen-Darm-Infekte?). Wobei Bergmann natürlich auch daran erinnert, dass Arbeit tatsächlich tödlich verlaufen kann. Allerdings erwähnt er leider an keiner Stelle die beiden wegweisenden epidemiologischen Studien Whitehall I + II, die zeigten, dass Angestellte auf niedrigeren hierarchischen Positionen signifikant früher starben, als deren Vorgesetzte, die einen deutlich höheren Grad an Möglichkeiten selbstbestimmter Arbeit hatten – ein Begriff, der bei Bergmann eine zentrale Rolle spielt.

„… die definierende Essenz der Neuen Arbeit: dass man selbst die Arbeit bestimmt. Diese Selbstbestimmung ist der Grundbaustein, das Molekül, aus dem das System der Neuen Arbeit  … aufgebaut worden ist.“ (Bergmann 2017: 116)

Und er geht noch einen fundamentalen Schritt weiter. Es nicht nur die konkrete Arbeit an sich, die erneuert werden sollte. Nein, es ist die „Pathologie des Lohnarbeitssystems“. Es ist genau dieses System, das in der Analyse Bergmanns einen wesentlichen Anteil an unserer kranken Arbeitskultur hat. Und darüber hinaus moniert er die „ungeheure Verschwendung“ und „Unproduktivität“ dieses Systems und seiner Arbeit (was jeder Lean Vertreter wohl sofort unterschreiben würde, wessenthalben ich überzeugt bin, dass Lean und New Work zusammengehören, wie auch neulich Daniela Röcker, meine Kollegin bei priomy darlegte). Insofern könnten alberne Feelgood Maßnahmen oder die Einführung ein paar agiler Methoden von der ursprünglichen Idee kaum noch weiter entfernt sein. Bergmanns Vorstellung einer Erneuerung der Arbeit hat somit einen massiven wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Anspruch, nicht umsonst heißt das Buch nicht einfach „Neue Arbeit“, sondern adressiert eben auch eine Neue Kultur.

Und da geht es auch erst mal darum, überhaupt wieder Alternativen sichtbar zu machen. So wie alle Parteien bei ansonsten teils diametral gegenüberliegenden Positionen ohne Ausnahme der heiligen Kuh des Wirtschaftswachstums frönen und keine Alternativen sehen (und hier), so droht das Lohnarbeitssystem erstens regelmäßig damit, dass uns die Arbeit ausgehen könnte und zweitens impliziert es eben wider jeden gesunden Menschenverstand eine Merkelsche Alternativlosigkeit. Gerade so, als ob dieses System von Gott höchstselbst in unsere Wirtschaft implementiert worden wäre und wehe dem, der sich daran vergreift. Hier musste ich kräftig lachen, als ich Bergmanns Position dazu las:

„Nichts wäre so bizarr … (wie) auf der verknöcherten Vorstellung zu beharren, dieses System sei etwas Ewiges und uns von der Natur oder von Gott Gegebenes.“ (a.a.O.: 107)

Nein, was für ein Unfug: „Es gibt Alternativen zum Lohnarbeitssystem.“ (ebnd.). Das erinnert mich an manch eine schicksalsergebene Behauptung, Wirtschaft sei von Menschen nicht gestaltbar. Bizarr, das ist das wirklich treffende Wort Bergmanns für derartige Statements, und er stellt dann auch noch die entsprechend politisch-strategische Frage, „… ob das Lohnarbeitssystem am Ende wirklich ein System der Arbeit ist oder ob es nicht einem ganzen Konglomerat anderer Ziele dient.“ (a.a.O.: 98) Wer affirmativ die Alternativlosigkeit beschwört, verfolgt naheliegenderweise die verdeckte Agenda, das bestehende System für die eigenen Zwecke zu nutzen. Wandel und Veränderung sind dann ganz schnell Angriffe auf die damit verbundenen persönlichen Vorteile. Vielleicht liegt in diesem Zusammenhang das revolutionärste Potenzial von Bergmann. Sich nicht gedanklich kastrieren zu lassen, keine Denkverbote zu akzeptieren, sondern Alternativen zu imaginieren und zu entwerfen.

Aber wie geht es weiter, wenn wir beginnen uns zu fragen, was wir wirklich wirklich wollen? Finden wir dann gleich eine Antwort? Nein – denn längst haben viele von uns den Kontakt zu sich selbst verloren (was ich aus der Sicht eines ehemaligen Therapeuten umgehend bestätigen würde). Und das Ergebnis nennt Bergmann die Armut der Begierde. Wobei er natürlich keine materielle Begierde meint, sondern eben jenes Gespür dafür, was ich wirklich wirklich will. Womit möchte ich ehrlich und aufrichtig meine Lebenszeit verbringen, jenseits elterlicher oder gesellschaftlicher Introjekte, die mir vorgaukeln, ich will unbedingt dies das oder jenes werden. Ich kann das aus eigener Erfahrung eines Reintegrationsprojekts von (Langzeit)Arbeitslosen bestätigen: 2006 – 2007 coachte ich mit gemeinsam mit einigen Kolleg*innen zwei Gruppen von Arbeitslosen: Fach- und Führungskräfte und Harz IV „Kunden“. Seinerzeit versuchten wir genau das: Bei jedem einzelnen herausarbeiten, was er oder sie wirklich wirklich will, ohne zwingenden Bezug zur bisherigen Erwerbsbiografie. Dabei gab es übrigens zwei gute Nachrichten: Erstens wurde das Projekt üppig von zwei Agenturen für Arbeit finanziert und zweitens hatten wir bei dem einen und der anderen Erfolg. Also: Wider die Armut der Begierde, auf zu neuen Ufern, so das Credo von Bergmann. DAS ist ein zentraler Teil von seinem ursprünglichen Verständnis von New Work. Nicht die Scrumisierung dieser Welt.

Aber Cave: Bergmann propagiert nun nicht das New Work Unternehmertum. Er ist keineswegs der Auffassung, dass wir alle, nachdem wir wissen, was wir wirklich wirklich wollen, einen neuen Unternehmer-Hype begründen sollten. Denn er hat schon eines frühzeitig erkannt, was tatsächlich vielen Menschen absolut klar ist: Wer sein eigenes Unternehmen gründen will, hat erstens nur eine geringe Chance. Fakt ist immer noch, dass die meisten damit scheitern. Und um erfolgreich zu sein, kommen zumindest aus der Kohorte der erfolgreichen Gründer*innen die meisten nicht umhin, 70-100 Stunden wöchentlich zu schuften. Und alles andere dafür gnadenlos hintenanzustellen. Die eigene Gesundheit, das soziale Netz, partnerschaftliche Beziehungen, die Herkunftsfamilie, das Gründen einer eigenen Familie, Hobbies und dergleichen mehr. Genau das reflektiert Bergmann in einem der letzten Kapitel: Der „werde Unternehmer!“ Rummel (a.a.O.: 398-403) Die gepriesene Freiheit des Unternehmertums ist zumindest ein ausgesprochen zweischneidiges Schwert.

Aber was dann, wenn man und frau endlich wissen, was sie wirklich wirklich wollen? Selbst wenn du das weißt, ist damit Dein Lebensunterhalt noch längst nicht langfristig gesichert. Je nachdem, in welcher Branche Deine wirkliche Leidenschaft liegt, kann das überaus brotlose Kunst sein. Deshalb bedarf es noch einer weiteren Komponente: Die Hightech-Eigenproduktion HTEP. Und NEIN: Damit ist keine birkenstocktragende Öko-Subsistenzwirtschaft gemeint, oder wie Bergmann wunderbar ironisch formuliert: Das „Marmelade-und-Tomaten-Syndrom“ (vgl. a.a.O.: 231f) Bergmann hat visionär die Chancen heutiger Technologien erkannt, die 2004 beziehungsweise davor, als er das Manuskript schrieb, noch längst nicht soweit waren: 3D-Drucker oder Personal Fabricator. Ihm schwebt vor, uns mit der Zeit unabhängig zu machen von zentralen, global agierenden Konzernen (aber explizit nicht darum, sie zu „zerschlagen“). Es wäre ein neues Wirtschaftssystem, indem wir nicht mehr mit vielen Produkten der Willfährigkeit globaler Marktführer ausgeliefert wären. Wir könnten dann in unseren eigenen kleinen (Gemeinschafts)Werkstätten oder „Minifabriken“ mit denen aus dem Netz runtergeladenen Bauplänen alles mögliche herstellen – eben nicht nur Salatköpfe züchten und uns in kratzig hässlichen Leinensäcken gekleidet in Verzicht üben. Heute, 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung wird deutlich, wie stimmig diese Vorstellung sein könnte. Fußnote:

„… neue Technologien: Geboren aus dem Kapitalismus sind sie es jetzt, die den Kapitalismus schwächen und zum Absterben bringen.“ (a.a.O.: 224)

Bildschirmfoto 2019-01-30 um 11.21.20Ob das nun so kommt, sie dahin gestellt. Aber eines ist sicherlich richtig: Das uns die „Technologie des Internets … die Möglichkeit gibt, das Territorium und die Macht der großen Unternehmen zu unterlaufen.“ (a.a.O.: 230) Das wurde längst mehrfach gezeigt. Allerdings gibt es auch die Kehrseite, die Bergmann nicht erwähnte: Das was heute unter Plattform-Ökonomie eine Ausbeutung 4.0 á la Uber ermöglicht. Allerdings ist das nicht das geringste Argument gegen Bergmanns Perspektiven und Argumente. Es ist lediglich die Kehrseite, die allem innewohnt. Nichts hat nur Vorteile. Tröstlich ist dabei: Die Arbeit geht uns nie aus, oder wie Bergmann titelt: „Arbeit ist unendlich“ (a.a.O.: 102-106). Insofern werden wir genug zu tun haben, solange wir noch als Menschen auf diesem Planeten oder anderen unser Leben leben. Und wie wir diese Arbeit als zentralen Teil unseres Lebens gestalten, ist ganz alleine unser Ding. Wir müssen uns nur eine Frage stellen: In welcher Welt wollen wir leben? (vgl. Zeuch, A. (2015): Aufbruch der Unternehmensdemokraten: 26-43). Mit etwas Glück finden wir dann „Das Leben und die Arbeit, die wir wirklich wirklich wollen“ (Bergmann (2004): 387-422).

Fazit: Neue Arbeit, Neue Kultur ist DAS Buch für ausnahmslos alle, die das Wort Neue Arbeit in den Mund nehmen und es ernst meinen. Auch wenn der teils recht redundante Stil und das Layout so ihre Tücken haben, weil es bei über 400 Seiten keine einzige Abbildung, Tabelle, Grafik oder sonst etwas gibt, geschweige denn auch nur ein Foto von den unzähligen Projekten Bergmanns – wie schade.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Bergmann, F. (2017): Neue Arbeit, Neue Kultur. arbor. Taschenbuch, 433 Seiten, € 19,90

 

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  1. […] Eine Zusammenfassung von Bergmanns Ideen, findet Ihr in der Rezension von Bergmanns Buch „Neue Arbeit, Neue Kultur“ bei Zeuchs […]

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