Chef sein? Lieber was bewegen.
2011 brachte der Unternehmensberater Gebhard Borck, der sich selbst lieber Unternehmenskatalysator nennt, sein Buch „Affenmärchen. Arbeit ohne Lack und Leder“ raus. Ich unterstützte ihn seinerzeit als Sparringspartner im Prozess des Schreibens und kann dieses mittlerweile vorletzte Buch von ihm auch weiterhin empfehlen. Ende 2018 hat er sein aktuelles Buch veröffentlicht.
Dieses Buch ist in dreifacher Hinsicht ungewöhnlich: Erstens ist es die Dokumentation von genau einer Transformation – und erzielt damit, soviel sei schon verraten, eine ganz andere Tiefe, als wenn in einem Buch mehrere Fallbeispiele präsentiert werden. Zweitens ist es fast durchgängig als Dialog geschrieben, vorwiegend zwischen dem Geschäftsführer und Inhaber des Beispielunternehmens und dem Berater, der die Alois Heiler GmbH intensiv begleitet hat. Drittens ist es ein Gemeinschaftswerk des Begleiters (Borck) und Begleitetem (Heiler), Letzterer ist sogar als Erstautor aufgeführt. Alleine das ist auffällig und erfreulich, weil erfrischend anders. Allein: Funktioniert das?
Ich habe das Vergnügen beide zu kennen: Gebhard seit vielen Jahren, mit dem ich, wie im Teaser angedeutet, schon in verschiedener Hinsicht zusammen gearbeitet habe. In gemeinsam veranstalteten Workshops (in einem davon war Stefan Heiler, der das Buch mitverfasst hat); in einem gemeinsamen Beratungsprojekt, das seinerzeit leider vom Kunden aus politischen Gründen abgebrochen wurde (dem Vorstand der Holding war es nicht mehr geheuer, wieviel Selbstorganisation die Geschäftsführung des 100% Tochterunternehmens einführte); und natürlich wie schon angedeutet die gegenseitige Unterstützung bei der Buchproduktion (Gebhard war mein Sparringspartner bei Feel it!). Und Stefan kannte ich seit eben jenem Workshop, den Gebhard und ich gemeinsam mit unserem Kollegen Markus Stegfellner veranstalteten. Danach war ich selbst noch kurzfristig am Anfang des Prozesses als Coach von Stefan ein wenig eingebunden. Somit hatte ich mit Spannung auf das Buch gewartet.
Stefan und Gebhard nehmen die Leser auf eine lange Reise mit. Dabei stellt sich schnell das Gefühl ein: Hier wird nichts geschönt und zu Werbezwecken auf Hochglanz präsentiert. Das ist ein gewaltiges Plus, vielleicht das Stärkste an dem ganzen Buch. Ein ehrlicher Bericht, ein transparentes Logbuch einer Transformation von Anfang bis – nun ja: Ende nicht wirklich, denn wann hört eine Transformation zu mehr Selbstorganisation schon auf? Diese Reise hier auch nur näherungsweise nachzuzeichnen erscheint mir recht sinnlos, deshalb möchte ich mich stattdessen auf ein paar Aspekte beschränken:
Scheinbar war in der Transformation irgendwann eine Konzeptualisieren des EntscheidungsDesigns wichtig: „Erst mit dem Entscheidungs-Design fanden wir einen gangbaren Weg, die Zusammenhänge zu teilen.“ (Heiler & Borck 2018: 139) Die Autoren haben dabei ein anderes Begriffsverständnis als ich zugrunde gelegt. Für mich ist das EntscheidungsDesign (in dieser Schreibweise) die Kombination der in einer Organisation eingesetzten Entscheidungsinstrumente, um möglichst nachhaltige Entscheidungen unter Einbezug rationaler und emotional-intuitiver Aspekte der Entscheidungsfindung zu treffen. Bei Stefan und Gebhard ist dies die Kombination aus Alltags-, Struktur- und Strategieentscheidungen. Alltägliche Entscheidungen finden dabei – so meine Formulierung – im operativen Raum statt. Es sind die Entscheidungen der täglichen (operativen) Arbeit. Bei Strukturentscheidungen geht es um die Verbesserung von allerlei Bestehendem, was immer das sei. Im Kontext von Holacracy wären das Governance-Entscheidungen. Last not least gibt es auch strategische Entscheidungen. Wir reden hier also über die Partizipationsreichweite von Entscheidungen: operativ, taktisch (strukturelle Entscheidungen) und strategisch. Dabei gilt: je komplexer und weitreichender die Entscheidungen sind, desto eher werden sie in der Gruppe getroffen. Ich persönlich werde allerdings bei meinem Begriffsverständnis bleiben, denn damit kann ich das individuelle EntscheidungsDesign einer Organisation abbilden. Mit dem Verständnis von Heiler/Borck werden vermutlich die meisten Organisationen dasselbe EntscheidungsDesign haben, denn die meisten Entscheidungen sind überall die der täglichen Arbeit, gefolgt von Struktur- und Strategieentscheidungen. Ich kann nicht erkennen, dass es da große individuelle Unterschiede geben soll – oder ich habe das Begriffsverständnis der beiden noch nicht kapiert.
Im Kapitel Selbst ist die Steuerung präsentieren die beiden Gebhards Konzept der sozialgenerischen Firmen-DNA. Als ich sie vor einiger Zeit das erste mal sah, fühlte ich mich spontan hingezogen und freute mich somit auf die im Buch ausführlichere Darstellung als im Web. Nun bin ich in der Situation, ein mehr oder minder konkretes Gefühl zu haben, dass Gebhard da etwas möglicherweise sehr Nützliches entwickelt hat – aber ich weiß es nicht wirklich, da ich auch nach der Lektüre des Buchs eher Fragen als Antworten habe. Deshalb greife ich hier zum trickreichen Kniff eines Zitats: „Die drei DNA-Bausteine – das Geschäftsmodell, die Aufbauorganisation und die Rollenstruktur – wirken an jeder Stelle der Firma. Sie bilden firmenseitig den Rahmen der DNA. Was die Mitarbeiter einvernehmlich darunter verstehen, ist ausschlaggebend für viel oder wenig Stress in der Organisation. Je mehr Sichtweisen es gibt und je unterschiedlicher sie sind, desto häufiger kommt es zu Missverständnissen und Wildwuchs.“ (a.a.O.: S. 151f, kursiv AZ) Die Autoren nutzen dieses Instrument, „damit alle Mitarbeiter besser verstehen,
- wie das ganze Unternehmen tickt.
- wo Probleme herkommen.
- was wir tatsächlich ändern sollten.
- welche spräche wir innerhalb der Organisation sprechen.“ (a.a.O.: 155)
Dabei ist mir nicht klar: Warum nur die oben zitierten und nicht weitere Elemente aus den Sphären von Firma und Mensch? Ja, ich stimme zu, Geschäftsmodell, Aufbauorganisation und Rollenstruktur wirken an jeder Stelle der Firma. Aber warum nur die Aufbau- und nicht auch die Ablauforganisation mit dem EntscheidungsDesign sowohl in Heiler/Borcks als auch meinem Sinne? Auch diese Elemente wirken – täglich, überall. Warum tauchen sie in der DNA nicht auf? Und warum sollte der Lebensentwurf der Menschen das Gegenstück zum Geschäftsmodell auf Seiten der Firma sein? Vielleicht macht diese Betrachtung hochgradig Sinn, aber ich ich habe es eben leider noch nicht verstanden (was vielleicht auch der Großform des Buches als fortlaufender Dialog geschuldet ist. Hier wäre für mich als Leser eine Erklärung wie bei Sachbüchern üblich, hilfreich gewesen, aber dazu gleich mehr). So würde ich den Lebensentwurf eher mit dem Unternehmenszweck koppeln, statt mit dem Geschäftsmodell. Ähnlich geht es mir mit den anderen beiden Elementen auf der Mensch-Seite: Die gesellschaftliche Position soll das Gegenstück zu Aufbauorganisation sein. Hm – ich habe aber im Hier und Jetzt immer nur eine gesellschaftliche Position, während die Aufbauorganisation eben den funktional-hierarchischen Aufbau einer Organisation beschreibt (zumeist im üblichen Setting mehrere hierarchischer Ebenen in verschiedenen voneinander getrennten Funktionssilos). Dass sich bei Firma und Mensch jeweils Rollenstrukturen abbilden und beschreiben lassen, leuchtet indes problemlos ein.
Das Ende des Buchs fand ich mit am spannendsten. Dort werden fünf Denkmodelle als „zentraler Baustein der Betriebskatalyse“ (a.a.O.: 268) skizziert.
- Aufklärung – Was trauen wir Menschen zu?
- Existenzanalyse – Was fordern wir von den Menschen?
- Leben bejahen – Wie arbeiten wir zusammen?
- Überleben – Wie sichern wir die Existenz in einer unvorhersehbaren Welt?
- Stressreduktion.
Damit bin ich dann aber auch wieder auf etwas gestoßen, was bei mir Widerstand auslöst. Denn die Autoren sehen keinen Sinn in der Arbeit mit und an Werten, Vision und Mission. Ob es letztere beiden immer braucht, sei dahingestellt. Aber eine Auseinandersetzung mit Werten erachte ich oftmals als hilfreich. „Anstatt zu versuchen, sich übergreifenden Visionen, Missionen und Werten zu verschreiben, sollte eine Firma herausfinden, ob die Belegschaft dieselbe Art zu denken und zu reflektieren teilt.“ (a.a.O.: 280). Dumm nur, dass es erstens eine Affektlogik gibt, wie der Basler Psychiater Luc Ciompi mit seinem schon 1997 veröffentlichten gleichnamigen Buch erläutert und gezeigt hat. Sprich: Unser Denken ist massiv von unseren Affekten beeinflusst. Und unsere subjektiven Wertewelten sind da viel näher an unseren Affekten, als unser Denken und beeinflussen es ihrerseits. Nein, ich glaube nicht daran, dass „unsere grundlegenden Denkarten … das Herzstück, der Kompass in unserem Handeln sind.“ (ebend.). Das sind meines Erachtens viel mehr unsere Werte. Was ist mir wichtig, vielleicht fast heilig? Und was passiert, wenn das nicht beachtet oder sogar verletzt wird?
Das, was am Buch mit am auffälligsten ist, nämliche seine Form als mehr oder minder fortlaufender Dialog zwischen verschiedenen Protagonisten, hat mich persönlich letztlich auf Dauer eher angestrengt. Zweifelsfrei ist dies reine Geschmacksache und nicht die geringste Aussage über die inhaltliche Qualität. Für mich persönlich bestand ein weiterer Nachteil darin, dass ich über das Inhaltsverzeichnis kaum klar wird, wo welche Themen, Herausforderungen und Probleme dieser Transformation behandelt werden. Es ist und bleibt ein Wirtschaftssachbuch – und da erwarte ich als Leser, dass mir der oder die Autoren verschiedene Instrumente an die Hand geben, mit denen ich ihr Buch mit maximalem Erkenntnisgewinn (wieder) lesen kann. Das gilt insbesondere dann, wenn die Autoren die absolute Hoheit über die Ausstattung haben, weil es nicht durch einen klassischen Verlag publiziert wurde, der schon mal ein Schlagwortverzeichnis unterlassen kann (wie zB. bei meinem letzten Buch Alle Macht für niemand). Immerhin gibt es bei Heiler & Borck ein solches Schlagwortverzeichnis – das ist gut so und auch nötig, wenn man eben bestimmte Themen schnell finden möchten. Allerdings fehlen teils hochspezifische Begriffe wie „Betriebskatalyse“, die die Autoren selbst entwickelt haben (so wollte ich genau diesen Begriff für die Rezension suchen, fand ihn aber nicht. Weder im Inhalts- noch Schlagwortverzeichnis. Ergo hätte ich das ganze Buch durchforsten müssen).
Last not least fand ich eines irritierend: In einem Buch, in dem es um (wertschätzende) Selbstorganisation geht, finde ich es befremdlich, dass die einzelnen Kapitel allesamt von Fotos der beiden Autoren illustriert sind – und sich im ganzen Buch nur ein einziges Foto von Mitarbeitenden findet, das wiederum in der Qualität deutlich hinter den meistens gut gemachten Fotos von Heiler & Borck zurückbleibt. Vielleicht wollten einige Mitarbeitende nicht im Buch abgebildet sein, aber die gesamte Belegschaft? Bei mir blieb an der Stelle somit der Eindruck eines Widerspruchs zwischen der angenehm bescheidenen, teils fast positiv demütigen Haltung der beiden Autoren im Vergleich zu der farbenfrohen, auffälligen Selbstdarstellung durch die Fotos.
Fazit: Wer einen fundierten, tieflotenden, detaillierten und vor allem ehrlichen Einblick in eine New Work Transformation will, ein besseres Verständnis für die Demokratisierung einer Organisation, der oder die sollte dieses Buch durcharbeiten. Auch wenn die Form bei mir auf keine Begeisterung stößt.
Herzliche Grüße
Andreas
Heiler, S.; Borck, G. (2018): Chef sein? Lieber was bewegen. Warum wir keine Führungskräfte mehr brauchen. Orgshop GmbH
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