Die Kraft der kollektiven Weisheit

Liebe Leserinnen und Leser!

Sie treibt mich um, die Frage, „wie wir gemeinsam schaffen, was einer allein nicht kann“, wie der Untertitel des Buches treffend heißt. Wir leben in einer interessanten, besser wohl: herausfordernden Zeit. Noch befinden wir uns in einer relativ stabilen Zone, stehen nicht im Krieg mit Nachbarn oder werden von einem autokratischen Herrscher des eigenen Landes angegriffen. Trotzdem stehen wir vor gewaltigen Problemen, die nicht nur einer allein, sondern auch relativ wenige Experten alleine nicht lösen werden. Die einzige tragfähige Lösung, an die ich glaube, wird aus uns selbst in großer Zahl kommen müssen. Kosha Anja Joubert befasst sich mit dieser Herausforderung.

Spätestens auf Seite 76 findet sich ein Grund, warum ich dieses Buch beinahe nicht empfohlen hätte: „Die kollektive Weisheit basiert auf dem Glauben an eine Erde, auf der all das vorhanden ist, was wir brauchen, wenn wir wieder lernen, achtsam auf ihr zu leben. … Die Kollektive Weisheit bringt eine Liebe zum Menschen mit sich und baut auf diese auf.“ Da kann ich überhaupt nicht mitgehen. Ganz im Gegenteil: Mit dem Titel spielt Joubert eindeutig an die „Weisheit der Vielen“ von James Surowiecki an, den sie auch einmal zitiert und der sich somit in ihrem Literaturverzeichnis befindet. Und der stellt klar, dass genau das nicht der Fall ist. Eine notwendige Bedingung für Schwarmintelligenz besteht in einer möglichst großen Heterogenität der Gruppe, die im Schwarm oder gar der Masse intelligent werden soll. Es ist zumindest für sehr viele Aufgaben, die mit Schwarmintelligenz gelöst werden sollen, nicht nur nicht erforderlich, sondern möglicherweise sogar hinderlich, wenn diese spezifische Gemeinsamkeit vorhanden wäre. Denn dann droht eine viel zu ähnliche Wahrnehmung und Interpretation der Welt, die den Wert der Vielfalt wieder zunichte macht: Die unterschiedlichen Perspektiven und Sichtweisen auf ein Thema.

Trotzdem empfehle ich das Buch, denn es beinhaltet viele wertvolle Anregungen. Die erste fand ich in einer treffenden Beschreibung unserer augenblicklichen Situation: Wir sind machtvoll und fühlen uns doch machtlos; wir haben nie soviel (über uns) gewusst und verstehen und wissen doch so vieles nicht; nie waren wir global und überhaupt so vernetzt und fühlen uns doch so einsam. Es ist eine schizophrene, eine paradoxe Welt. Eine, in der wir uns als Menschheit viele Möglichkeiten und Chancen geschaffen haben, aber auch erhebliche Risiken. Sie sind das Anwendungsszenario für unsere gemeinsame kollektive Intelligenz und Weisheit. Das ist so viel treffender und bedeutsamer, als der Hollywood Stock Exchange, bei dem es darum geht, den Schwarm für möglichst genaue Prognosen über die Erfolgsentwicklung neuer Kinofilme zu nutzen.

Eine weitere Anregung ist eine wunderbare Analogie: Unser Körper und unser Ich-Empfinden ist ein treffliches Beispiel für kollektive Intelligenz und für das Phänomen der Emergenz: Das Entstehen neuer Eigenschaften aus dem Zusammenspiel von Systemelementen, ohne das diese neuen Eigenschaften aus den einzelnen Elementen heraus erklärt werden könnten. Joubert stellt zu Recht fest, dass auch Kollektive Intelligenz als Emergenz verstanden werden kann. Vor allem aber hat sie es mit diesem Vergleich geschafft, dass man jedem gesunden Mensch über sein Körper- und Ich-Erleben das Phänomen der kollektiven Intelligenz näher bringen kann.

Im fünften Kapitel wendet sich Joubert unter anderem der kollektiven Dummheit zu. Berechtigt und wichtig, denn das die Masse zum Mob wird, ist ja eher die Grundannahme, als das sie zu besonders intelligenten oder gar weisen Leistungen in der Lage ist. Joubert fokussiert eine der größten, wenn nicht die größte kollektive Dummheit der Menschheitsgeschichte: „Wie konnte es zum Holocaust kommen?“ (S. 78). Damit nicht genug. Joubert ruft in Erinnerung, dass wir das Kolonialsystem durch ein globales Wirtschaftssystem ersetzt haben, indem wir auf subtilere Weise Ausbeutung und Eigennutzenmaximierung als neue Variante eines alten, kollektiv dummen Spiels weiterspielen.

Über diese kreisenden Annäherungen an das Thema findet man allmählich zum Zentrum und Kern des Buches. Da ist erstens die „Mustersprache der kollektiven Weisheit“:

  1. Ausrichtung kristallisieren
  2. Individuelle Einzigartigkeit entwickeln
  3. Vielfalt einladen
  4. Nichtwissen zulassen
  5. Verbundenheit und Intimität kultivieren
  6. In die Praxis gehen
  7. Reflexionen integrieren
Dann folgt der Werkzeugkasten, um das Wir, die kollektive Weisheit nutzbar zu machen, wenn Menschen in einem Raum zusammenkommen. Es ist eine sehr komprimierte, gut nutzbare Zusammenfassung wichtiger und effektiver Methoden. Joubert macht glücklicherweise klar, dass es am Ende nicht darauf ankommt, diese Methoden sklavisch anzuwenden, sondern ihren Geist zu durchdringen, die dahinter liegenden Prinzipien zu verstehen und vor allem: in eine hilfreiche Haltung zu gelangen. Erst dann entsteht ein wirklich effektiver und effizienter Umgang mit diesen Instrumenten. Improvisation wird möglich, der Facilitator oder die Moderatorin kann mit den einzelnen Elementen spielen und das nutzen, was im Moment gerade gebraucht wird:
  1. Kurzdialog
  2. Sprechstabrunden
  3. Dialog nach Bohm
  4. Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck
  5. Das Forum
  6. Gewaltfreie Kommunikation
  7. Worldwork/Processwork
  8. Open Space
  9. World Cafe
  10. Theory U
  11. Dragon Dreaming
  12. Holacracy
  13. Und abschließend ein paar einfache Übungen
Eines hat sich wie ein roter Faden durchs Buch gezogen: Die Bedeutung der Intuition für die Kollektive Weisheit, wie man sie hervorbringt und durch die oben genannten Methoden unterstützt. Joubert bringt hier endlich das in die Auseinandersetzung mit Schwarmintelligenz, was die ansonsten eher akademisch geprägten Autoren fast durchgehend ignorieren. Darüber habe ich mich besonders gefreut und Joubert gebührt dafür Dank. Denn wenn bereits einer „mehr weiß, als er sagen kann“ (Polanyi), so gilt dies ebenso für (Groß-)Gruppen und gar für Massen. Letztlich ist damit auch die Tatsache verbunden, dass wir gar nicht anders können, als immer rational und intuitiv wahrzunehmen, zu denken und zu handeln. Es ist und bleibt eine Einheit, die uns überhaupt erst zu Menschen macht.

Meine größte Kritik hatte ich schon geäußert. Kosha Anja Joubert hat ein sehr besonderes Verständnis von kollektiver Intelligenz. Es ist ein spirituelles Verständnis. Eines das zutiefst sinnvoll ist und gleichzeitig äußerst einschränkend. So wie sie ihre sehr persönliche Geschichte und damit ihren persönlichen Zugang zur Schwarmintelligenz offenlegt, ist dies verständlich. Aber mir fehlt manches mal der Schritt aus dem eigenen Blickwinkel heraus, um zumindest klarzustellen, dass dieses Verständnis von Schwarmintelligenz eben ein sehr besonderes ist, dass sogar in Widerspruch zu bekannten Phänomenen kollektiver Intelligenz steht. Und eben das es sehr begrenzend ist.
Ebenso kritisch sehe ich die alleinige Ausrichtung auf das Entstehen und Nutzen kollektiver Intelligenz im direkten zwischenmenschlichen Kontakt. Joubert listet (Groß-)Gruppenmethoden auf, die allesamt hervorragend geeignet sind, um die Weisheit der Vielen zu nutzen. Allerdings übersieht sie dabei folgendes: Wir begrenzen und damit wieder unnötig. Denn um diese Methoden zu nutzen, müssen wir physisch an einem Ort zur selben Zeit zusammenkommen. Das ist ein großes Hindernis. Aber nicht nur, dies, sondern auch das: Joubert erwähnt nicht einmal, dass wir heute mit dem Internet und Computern die ungeheure Möglichkeit haben, unsere gemeinsame Weisheit auch von solch zeitlich-räumlich koordinierten Treffen unabhängig zu nutzen. Natürlich wird das virtuelle Miteinander niemals das echte Beisammen-Sein ersetzen können – aber unbedingt ergänzen. Um Potentiale und Ressourcen, die unerschlossen bleiben, wenn wir diese große Chance ungenutzt verstreichen lassen.
Letztlich war das Ausmaß der persönlichen Geschichte Jouberts für mich zuviel des Guten. Ab einem gewissen Punkt hat es mir keinen Mehrwert in der Auseinandersetzung mit kollektiver Weisheit gebracht. Wenn ich die Biografie eines bestimmten Menschen lesen will, kaufe ich mir eine Biografie und kein Sachbuch.
Fazit: Ein Buch für all diejenigen, die Ihr Verständnis von Schwarmintelligenz erweitern wollen und einen Überblick über Face-2-Face-Methoden suchen, um sie nutzbar zu machen. Für diejenigen, die gerne mehr über die Motive und die Geschichte erfahren wollen, warum Joubert so denkt und handelt, wie sie es tun, für diejenigen ist das Buch besonders spannend. 

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Joubert, K.A. (2010): Die Kraft der kollektiven Weisheit. wie wir gemeinsam schaffen, was einer allein nicht kann. jkamphausen. Paperback, 205 Seiten. 18,95

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