Das Unerwartete managen

Liebe Leserinnen und Leser,

Wie soll man das Unerwartete managen? Es ist doch eben unerwartet. Da es unerwartet ist, scheint es – in Anlehnung an Nassim Nicholas Talebs →“Schwarzen Schwan“ – zudem höchst unwahrscheinlich und entzieht sich damit der Berechenbarkeit. Die Antwort auf diese berechtigen Fragen ist indes in ihrer Verdichtung einfach: Nur der vorbereitete Geist vermag den Zufall zu nutzen. Und auf Fehler angemessen reagieren. Was einen solchen vorbereiteten Geist ausmacht und wie man ihn in Unternehmen und Organisationen professionell aufbauen kann, darauf geben die beiden Autoren Karl Weick und Kathleen Sutcliffe fundierte Antworten. Das so gründlich, dass ihr Begriff der „High Reliability Organizations“ mittlerweile vielen bekannt ist.

Der Ausgangspunkt, das Unerwartete zu managen, besteht für Karl Weick und Kathleen Sutcliffe darin, Organisationen und Unternehmen zu betrachten, die „sich durch ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit auszeichnen, sogenannte High Reliability Organizations oder kurz HROs.“ (S. 7*) Es sind dies Organisationen, die trotz (oder vielleicht aufgrund) hoher Risiken überraschend wenig weitreichende Fehler aufweisen. Beispielhaft handelt es sich um Flugzeugträger, Feuerwehrmannschaften, Katastrophenschutzdienste, Flugsicherungen, Atomkraftwerke und dergleichen mehr. All diesen Organisationen sind fünf Prinzipien gemeinsam:

  1. Die Aufmerksamkeit ist eher auf Fehler als auf Erfolge gerichtet.
  2. Einfache Interpretationen werden abgelehnt.
  3. Sie entwickeln und pflegen ein gutes Gespür für betriebliche Abläufe.
  4. Sie suchen und erstreben Flexibilität.
  5. Sie achten fachliches Wissen und Können.

Der größte Unterschied zwischen HROs und „normalen“ Organisationen liegt in der Anfangsphase unerwarteter Ereignisse und potentieller Fehler. Die MitarbeiterInnen von HROs haben ein gutes Gespür für schwache Signale entwickelt, die auf drohende Probleme verweisen. Da wo anderen Organisationen und ihre Belegschaften über diese Signale hinweg gehen, sie eher ignorieren, sind HROs besonders sensibel. Sie haben eine große Achtsamkeit für die Bedeutung schwacher Signale entwickelt. Diesbezüglich ist, auch wenn das Weick und Sutcliffe nicht groß ausführen, die Experten- und Anfängerintuition ein wichtiges Element der Früherkennung. Immer dann, wenn Zahlen, Daten und Fakten noch keine klaren Hinweise ermöglichen.

Ein weiterer, fundamentaler Unterschied liegt in den strategischen Zielen und Ausrichtungen. Normalerweise wird in einer Strategie beschrieben, wie sich Unternehmen in der Zukunft aufstellen möchten. Dabei übersehen sie, herauszuarbeiten, worin mögliche schwerwiegende Fehlern liegen könnten und wie man mit ihnen umgehen möchte. Es kommt schnell zu dem üblichen Fehler der Selbstüberschätzung hinsichtlich der Möglichkeiten von Kontrolle und Steuerung.

Einer der wichtigsten Aspekte besteht darin, Fehler nicht als singuläres Problem zu behandeln, für das möglichst schnell ein Schuldiger gesucht und bestraft wird, sondern vielmehr Fehler als möglichen Hinweis zu betrachten, das es sich um ein systemisches Problem handelt. Durch diese Haltung wird überhaupt erst eine fehlerfreundliche Lernkultur begründet. Dann steckt in jedem identifizierten Fehler die Chance, das System robuster und intelligenter zu gestalten. Und diese Haltung wird von HROs fast mit Besessenheit verwirklicht. Jeder noch so kleine Fehler bietet eine Lernchance, was im System noch zu verbessern ist.
Auf diese Weise entsteht ein völlig neues Verhältnis zu Planungsprozessen und Plänen. Denn möglichst perfekte Pläne setzen voraus, dass das Teilsystem der Organisation und die sie umgebende Umwelt angemessen verstanden und vorhergesagt werden können. Beides ist aber in komplexen Systemen meist nicht möglich. Damit werden möglichst exakte Pläne eher zum Auslöser für weitere Fehler und Unachtsamkeiten, denn es liegt nahe, Abweichungen solange wie möglich vom Plan fernzuhalten, damit er eben plangemäß vollzogen werden kann.

Damit hängt eng die Auseinandersetzung mit „Beinahe-Fehlern“ zusammen. Wo in herkömmlichen Unternehmen jeder aufatmet, dass man gerade an einer kleinen oder großen Katastrophe vorbeigeschlittert ist, werden in HROs diese Beinahe-Fehler sofort als weiterer wichtiger Impuls in Richtung Lernen und Verbesserungen interpretiert und analysiert.

Die (Zwischen-)Ergebnisse des Buches werden in den letzten beiden Kapiteln „Die Organisationskultur und das Unerwartete“ sowie „Ein achtsames Management“ in Form von praktischen Handlungsanweisungen verdichtet und zusammengefasst. Weick und Sutcliffe liefern eine Liste von „Werkzeugen für die Gestaltung einer achtsamen Kultur“:

  1. „Spüren sie schlechte Nachrichten auf.
  2. Klären Sie die Beweislast. … Wird unterstellt, dass das System sicher ist, bei seine Gefahr nachgewiesen wird, oder wird unterstellt, dass es gefährlich ist, bis seine Sicherheit erwiesen ist?
  3. Gehen Sie ungewöhnlichen Ereignissen auf den Grund.
  4. Definieren Sie, was einen Beinahe-Unfall kennzeichnet.
  5. Verbinden Sie Ihre Aufklärungsbemühungen. … Unabhängige Mini-Erklärungen können die Existenz eines Maxi-Problems verschleiern.
  6. Unterschätzen Sie nie die Macht sozialer Beeinflussung. (anders formuliert: Erzeugen und pflegen Sie Querdenken, Andersdenken, Heterogenität! A.Z.)
  7. Untersuchen Sie, wie in Ihrer Firmenkultur mit Feedback umgegangen wird.
  8. Entwickeln Sie durch Ihr Handeln neue Wertvorstellungen (nicht durch theoretische Setzungen, A.Z.)
  9. Vergessen Sie nicht das „Herz“ der Kultur (Gefühle sind zentraler Bestandteil der Unternehmenskultur, A.Z.)
  10. Motivieren sie die Mitarbeiter, zentrale Vorstellungen der Unternehmenskultur mit ihren eigenen Worten zu beschreiben
  11. Geben Sie der Kultur eine feste symbolische Gestalt.
  12. Üben Sie Kontrolle durch die Unternehmenskultur aus (anstatt Mikromanagement. Kultureller sozialer Druck ist eine der intelligenten Formen von Kontrolle, neben der Eingangskontrolle, wer überhaupt Mitarbeiter wird, A.Z. Vergleich auch: →“Investition Vertrauen„)
  13. Sicherheit ist Ihre oberste Priorität. … Wenn man achtsam ist, stellt man die eigene Kompetenz … in Frage.
  14. Betrachten Sie die Unternehmenskultur als eine Investition in Flexibilität.
  15. Rüsten Sie sich für einen Guerillakrieg.“ (Es geht darum, Fehler, Überraschungen, Rückschläge etc. als unvermeidlich anzuerkennen. Es gibt kein endgültiges Ergebnis. A.Z.) (S. 156-164)
Kritisch anzumerken habe ich dreierlei: Bei diesem Thema ist es erstens äußerst sonderbar, wenn Intuition zur Früherkennung schwacher Signale nicht ausführlich thematisiert wird. Das kann ich rein gar nicht nachvollziehen. Zumal Weick und Sutcliffe teilweise sogar auf Gary Klein Bezug nehmen, der ja eines der ganz wenigen guten Bücher über professionelle Intuition geschrieben hat.
Ebenso erstaunlich ist zweitens der teils fragliche positive Umgang mit Experitse. Fachwissen ist sinnvoll, nützlich und lässt sich nicht vermeiden. Aber es bringt eben auch Probleme mit sich: Erfolgs- und Erfahrungsfallen, wie das auch Clayton Christensen in seinem →“Innovator’s Dilemma“ mit vielen Beispielen belegt hat. Hier wäre eine kritischere Auseinandersetzung mit Expertise gut gewesen. Sie erfolgt mir zu allgemein im Sinne mangelnder Selbstkritik.
Drittens sind mir die beiden letzten Kapitel mit den praktischen Anleitungen zu redundant. Klar, hier und da macht Wiederholung Sinn, aber mir war’s zuviel des Guten. Es war nicht übermäßig, aber hat doch die Freude am Lesen ein wenig geschmälert. Vielleicht hat sich das in der aktuellen, überarbeiteten Auflage, die fortan von Schäffer-Poeschel verlegt wird, geändert. Das hoffe ich zumindest.
 
Fazit: Ein Buch für alle Geschäftsführer, Vorstände und Bereichs/Abteilungsleiter, die wollen, dass ihr Unternehmen mit dem Unerwarteten, mit Ungewissheit, kurzum: mit Nichtwissen erfolgreicher umgeht.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Weick, K., Sutcliffe, K. (2010): Das Unerwartete managen. Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen. Schäffer-Poeschel. Gebunden, 201 Seiten. 29,95€

* Die Seitenangaben beziehen sich auf meine Ausgabe von 2003 bei Klett-Cotta.

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