Transformationsdesign
Liebe Leserinnen und Leser!
Nun ist es soweit: Nach dem letzten rundum verdienten Bestseller →“Selbst denken“ von Harald Welzer liegt nun endlich sein neues Buch vor, gemeinsam mit Bernd Sommer verfasst, Leiter des Forschungsbereichs Klima, Kultur & Nachhaltigkeit am Flensburger Norbert Elias Center. In diesem Buch haben die beiden Autoren das niedergeschrieben, was zumindest Harald Welzer schon seit einiger Zeit bei Vorträgen immer wieder thematisiert und was auch schon in „Selbst denken“ anklang: Wie sieht ein Transformationsdesign für eine zukunftsfähige – menschliche – Moderne aus? Die Autoren verdeutlichen schnell anhand zweier großer historischer Veränderungs- oder gar Verwandlungsprozesse der Menschheit, wie bisherige weitreichende gesellschaftliche Transformationen verlaufen sind. Was wiederum schnell klar macht, warum wir seit rund 40 Jahren einen enormen Bewusstseinswandel hinsichtlich ökologisch-nachhaltiger Themen beobachten können, aber keine damit verbundenen ebenso konsequenten Verhaltens- und Gesellschaftsveränderungen. Sommer und Welzer arbeiten einen fundamentalen Sachverhalt als Bedingung gelingenden Wandels heraus, der noch viel Staub aufwirbeln wird. Früher oder später.
Zu Beginn stecken die beiden Autoren die Landkarte des Gebietes ab, dass es zu vermessen gilt: Die wohlhabenden frühindustrialisierten Gesellschaften. Dafür führen sie drei Gründe auf: Erstens stehen die benannten Gesellschaften vor gänzlich anderen Entwicklungsaufgaben als Schwellen- oder gar Entwicklungsländer. Zweitens haben wir, die wir in den wohlhabenden Gesellschaften leben durch unsere großzügigen Lebensumstände ausreichend Möglichkeiten, um sowohl unsere privaten als auch beruflichen Lebensweisen und -bedingungen zu gestalten. Drittens stehen wir durch den bisherigen geschichtlichen Verlauf als auch unseren aktuellen Verbrauch natürlicher Ressourcen in der Verantwortung, eine gelungene Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit zu realisieren.
Beileibe geht es dabei nicht nur um den viel diskutierten Klimawandel und etwaige Streitereien, ob dieser Wandel nun tatsächlich so dramatisch ist, wie immer wieder berichtet. Nein, es geht um viel mehr und somit ist die besagte Auseinandersetzung um die Korrektheit eines Klimawandels reichlich kurz gedacht. Denn wir haben noch einen Haufen anderer globaler Probleme durch unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und den damit verbundenen Werten geschaffen: Immens steigende Müllberge, Flächenversiegelung, irreversible Ausbeutung nicht nachwachsender Rohstoffe, Abbau der Ozonschicht, Veränderungen des Stickstoff- und Phosphorzyklus, chemische Verschmutzung, steigender, globaler Frischwasserverbrauch, Artenaussterben. Diese Liste dürfte klarstellen, dass definitiv Handlungsbedarf besteht. Wir müssen die „strukturelle Nicht-Nachhaltigkeit und imperiale Lebensweise“ ändern.
Aus all diesen miteinander vernetzten Veränderungen erwächst ein nicht mehr zu unterschätzendes Risiko: Unser Erst-Welt-Leben wird sich ändern. So oder so, früher oder später. Daraus folgt die entscheidende Frage: Ändern wir uns „by design or by Desaster“? Dabei arbeiten Welzer klar heraus, dass wir unserer jetzigen Wirtschaft und Gesellschaft zweifelsfrei viel zu verdanken haben. Wir genießen Bildungs- und Gesundheitssysteme, die in den meisten Entwicklungs- oder Schwellenländern so nicht zu finden sind (abgesehen mal von interessanten Ausnahmen, auf die die Autoren leider nicht eingehen, wie beispielsweise Cuba); desweiteren genießen wir demokratische Grundrechte, die und bei aller möglichen Kritik ein weitaus angenehmeres Leben bescheren, als in vielen anderen, nicht derart entwickelten Ländern. Durch den Human Development Index zeigt sich, dass Länder mit einem hohen Niveau menschlicher Entwicklung immer auch nicht nachhaltig agieren. Es gibt nicht ein einziges Land, das einen hohen menschlichen Entwicklungsstand aufweisen kann und gleichzeitig nachhaltig ist. Daraus erwächst eine herausfordernde paradoxe Aufgabe: Wie erhalten wir die erreichten wertvollen Bestandteile unserer Gesellschaften und erreichen gleichzeitig eine dauerhafte Nachhaltigkeit?
Große Veränderungsprozesse gab es schon vor dem 21. Jahrhundert. Sommer und Welzer machen anhand der Neolithischen und Industriellen Revolution und dem Abolitionismus klar, wie bisher derartige globale Umwälzungsprozesse verlaufen sind. Zweierlei ist dabei zentral: Erstens gab es in den genannten Fällen keinen Masterplan, kein zentrales Steuerungsorgan, von dem der Wandel gelenkt und gestaltet wurde. Es waren immer vielfältige, teils klein und unwichtig anmutende Veränderungsprozesse, die in der Summe über viele Jahre eine große Wirkung entfalteten. Zweitens verlief keiner dieser Veränderungsprozesse ohne Konflikte. Es ging immer auch um für manche Gesellschaftsgruppen schmerzhafte Einschnitte, um neu arrangierte Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Erst durch staatliche Regulation wurde Kinderarbeit in England und Sklavenarbeit in Amerika abgeschafft. Dies bedeutete für viele, wenn nicht für die meisten Unternehmer eine Zerstörung ihrer Geschäftsmodelle und -grundlagen.
Und genau so steht es auch heute außer Frage, dass es nicht nur darum gehen wird, unser Leben zu reduzieren und weniger zu konsumieren; es wird auch darum gehen, wesentlich privilegiertere Gesellschaftsgruppen wie Reiche und Superreiche zu deprivilegieren. Wir finden nicht zu dauerhafter Nachhaltigkeit, wenn die Einkommens- und Vermögensspannen immer weiter auseinanderklaffen, so wie das jüngst wieder eine Studie der Credit Suisse zeigte (was ja besonders beachtlich ist, da die Credit Suisse wohl kaum eine kapitalismusfeindliche NGO ist). Und dieser drohende Konflikt, der sich zunehmend deutlicher abzeichnet, führt zu einem Transformationsverständnis, dem wir bisher erlegen sind, dass uns aber nicht im geringsten weiterhelfen wird.
So ziemlich überall wird darüber diskutiert und nachgedacht, wie wir durch verbesserte Technologien die Probleme in den Griff bekommen. Und genau diese Transformationsvisionen kritisieren die beiden Autoren überzeugend. Das beginnt damit, dass Sommer und Welzer zu Recht feststellen, dass keine der deutschen politischen Parteien das Wachstumsparadigma wirklich kritisch reflektieren. Statt dessen setzen alle mehr oder weniger einhellig auf technischen Fortschritt. Dabei wird jedoch immer wieder übersehen, dass heutige Technologien ehemals eingeführt wurden, um bereits zuvor identifizierte Probleme zu lösen. So lief es auch bei der Atomenergie, die ja bis heute in Ländern wie Großbritannien oder einigen US amerikanischen Bundesstaaten als saubere Energie gefördert wird. Aber heute reichen die technoiden Lösungsvisionen viel weiter, obwohl niemand weiß, wohin die mögliche Realisierung führen könnte. Ein durch und durch gruseliges Beispiel dafür ist das Geoengineering, mit dem durch „großskalige technologische Eingriffe in die geo- und biochemischen Abläufe des Erdsystems“ (S. 77) die CO2 Konzentration in der Atmosphäre reduziert werden soll. Ähnlich verhält es sich mit Strategien der Inwertsetzung natürlicher Ressourcen. Am Ende geht es weiter darum, die bestehenden Verhältnisse von Wachstum und Konsum als angeblichem Treiber von Wohlstand weiterhin aufrecht zu erhalten. Und damit natürlich auch die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse.
Das eigentliche Problem liegt aber viel tiefer. Wir haben die äußeren Verhältnisse verinnerlicht. Das zeigt sich ebenso in der totalen Ökonomisierung originär nicht ökonomischer Lebensbereiche wie in individuellen, persönlichen Verhaltensmustern von Hyperkonsum und dem damit verbundenen Versuch, ehedem vorhandene wichtige Lebensbereiche wie Spiritualität durch Kaufrausch zu ersetzen. Sowohl aus diesem Grund wie auch durch eine nicht unerhebliche technologische Pfadabhängigkeit kommt es zwangsläufig zu den bekannten Reboundeffekten, in denen die Einsparungen in einem Bereich durch Ausgaben in anderen Bereichen aufgefressen werden. Und manchmal können wir sogar den weniger bekannten „Backfire“ Effekt beobachten, dass die Einsparungen nicht nur neutralisiert werden, sondern dass unterm Strich mehr Ressourcen verbraucht, mehr CO2 und Müll entsteht, als zuvor.
Also gilt etwas Fundamentales: „Transformationsdesign setzt nicht bei Produkten an, sondern bei der kulturellen Produktion und Reproduktion.“ (S. 115). Damit könnte man es folgendermaßen beschreiben: Transformationsdesign ist
- emanzipativ – „es dient der Ermöglichung von Mündigkeit“ (S. 117)
- reduktiv – „nicht nur andere, sondern weniger Energie. Nicht bessere, sondern weniger Produkte.“ (S. 118)
- zweckerweiternd – vieles was heute besteht, können wir zukünftig anders nutzen und so einsparen
- aufklärend – nur wenn wir wissen, wie etwas entsteht, können wir uns frei dafür oder dagegen entscheiden
Ein wunderbares Beispiel stammt von Alastair Parvin, dem Erfinder des Wiki-Hauses, der von einer überaus kreativen und sparenden Lösung im Rahmen eines Schulumbaus berichtete. Das Problem bestand darin, dass die Korridore in einer alten Schule viel zu eng waren, um die heutigen Schülermengen zu bewältigen. Ein Lösungsvorschlag bestand in der recht konservativ gedachten Erweiterung des Gebäudes. Veranschlagte Kosten: 20 Millionen Pfund. Die realisierte Lösung kostet nur ein paar hundert Pfund und sparte obendrein Unmengen an Bauschutt und neuen Baustoffen zuzüglich der damit verbundenen logistischen Aufwände beim Bau: Die Schulglocke wurde abgeschafft und stattdessen in jedem Klassenraum eine eigene Glocke installiert, die zeitversetzt läuteten. Damit war das Problem gelöst. Die Korridore reichten wieder aus, da nicht mehr alle Schüler gleichzeitig auf die Gänge strömten. So einfach, effektiv und effizient kann eine kreative, nachhaltige Lösung aussehen.
Ebenso wichtig wird mit der Zeit, dass Produkte hinsichtlich ihrer Herkunft und Geschichte transparent werden. Wer denkt schon an die geschlachteten Kühe und alle überflüssige Verschwendung, die damit verbunden ist (Methangas-Produktion etc.), wenn er oder sie sich auf die netten Ledersitze eines Autos niederlässt? Sommer und Welzer präsentieren verschiedene Beispiele aufklärerischen Designs: Ein Kuhsofa in Form einer Kuh, bespannt mit der Haut einer Kuh; oder Lampen aus Schafsmägen, die ihre Herkunft auch nicht verleugnen können. Daraus entsteht dann eine wichtige Frage für uns alle: „Möchte ich dieses Teil in mein Leben lassen?“ (S. 164)
Schlussendlich berichten die Autoren von verschiedenen Ansätzen zu einem Transformationsdesign, dass – will es erfolgreich sein – immer nur selbstorganisiert aus verschiedensten Ansätzen, Strömungen und Konzepten bestehen kann. Transition Towns, Divestment, also das Abziehen des Geldes aus nicht nachhaltigen Investitionen, Gemeinwohlökonomie, Arbeitszeitverkürzung, bedingungsloses Grundeinkommen, Commons und eine Postwachstumsökonomie.
Sommer und Welzer bringen die größte Herausforderung eines gelungenen Transformationsdesigns für eine zukunftsfähige Modern am Ende auf den Punkt: „Die Qualität von Transformationsdesign ermisst sich heute genauso wenig wie morgen an allgemeiner Zustimmungsfähigkeit.“ Wohl wahr.
Fazit: Wer eine enkelsichere Zukunft mitgestalten möchte, sollte dieses Buch lesen. Es stellt die anlaufende große Gesellschaftsveränderung in einen historischen Zusammenhang und macht klar, worauf es beim Wie des Wandels ankommt.
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
Sommer, B.; Welzer, H. (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. oekom. Gebunden mit Schutzumschlag, 236 Seiten.
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[…] in dieselbe Kerbe wie Harald Welzer in seinen Büchern →”Selbst denken” und →”Transformationsdesign“: Es gibt keinen Masterplan. Es gibt nur einen immer weiter wachsenden bunten Blumenstrauß […]
[…] Transformationsdesign – für manche mit Freude an intellektuellem Ausdruck ist unmittelbar klar, was damit gemeint ist. Für andere nicht unbedingt. Also: Transformationsdesign meint die Formgebung gesellschaftlicher und kultureller Veränderungsprozesse. In diesem Sinne stellt sich die wesentliche Frage: Wie sollten Veränderungsprozesse sinnvollerweise gestaltet sein, damit sie zu einer sozial-ökologisch nachhaltigen, zukunftsfähigen Moderne führen können? Die beiden Autoren Bernd Sommer und Harald Welzer (→”Selbst denken“) erarbeiten eine vielschichtige und weitreichende Antwort auf diese Frage. So entstand ein Buch, das für alle lesenswert ist, die einen Beitrag zu einer menschenwürdigeren Zukunft leisten wollen. Hier geht’s zu meiner Rezension. […]
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