The Innovator’s Dilemma

Folgende Begebenheit aus der Geschichte bahnbrechender Innovationen ist einigermaßen bekannt: Früher, bevor die Bequemlichkeit bei uns allen Einzug gehalten hat, wurde Eis im Winter aus Seen und Flüssen herausgebrochen und zu Kühlzwecken in Kellern eingelagert. Allerdings war klar, dass es nicht gerade besonders praktisch ist, immer nur im Winter neues Eis „produzieren“ zu können und das auch noch mit diversen Verschmutzungen. So wurden die Eisernter mit der Zeit durch Eisfabriken abgelöst, in denen in zunehmend perfekteren Maße eine von der Jahreszeit und geografischen Lage unabhängige Eisproduktion gelang. Heute wissen wir, dass der Fortschritt hier nicht halt machte. Denn so richtig praktisch waren die Eisfabriken immer noch nicht, schließlich musste das Produkt noch relativ aufwändig distribuiert werden. Die dritte Stufe der Entwicklung waren die uns heute bekannte Kühlschränke, anfänglich natürlich noch mit anderer Technologie als heute. Das Spannende dabei: Keine der Folgestufen ging aus der Vorgängerstufe hervor. Anders herum: Weder einer der Eisernter noch eine der Eisfabriken waren in der Lage, die nächste bahnbrechende Innovation zu verwirklichen. Und das liegt nicht nur, wie ich bisher dachte, an der Erfahrungsfalle …

Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, will heißen: Noch kann man nicht von einem Muster sprechen. Deshalb untersuchte Clayton Christensen diverse Branchen und Unternehmen: Produzenten von Segelschiffen, Hersteller von Computerlaufwerken wie IBM, Control Data, Digital Equipment, Storage Technology und Ampel; Kamerahersteller wie Leica, die Schweizer Uhrenindustrie, diverse Fluglinien,  Hersteller von Baggergeräten, Stahlproduzenten, Einzelhandel, Hersteller von Computerdruckern wie Hewlett-Packard, Siemens, die Musikindustrie… Ihr seht: Die Liste ist ziemlich lang und die Ergebnisse machen klar: Es handelt sich sehr wohl um ein Muster.

Am Anfang steht die Definition „disruptiver“, also radikaler Innovationen: „Disruptive Technologien sind in der Regel billiger, zuverlässiger und benutzerfreundlicher als etablierte Technologien.“ Anfänglich verfügen sie über einen geringeren Funktionsumfang und sind technisch noch nicht so ausgereift, wie die vorhandenen Technologien. Und vor allem: Es gibt zu Beginn ihrer Erfindung und Entwicklung noch keinen besonders großen Markt. Die meisten Kunden, egal ob B2B oder B2C, können mit den Innovationen noch nichts anfangen, zumindest nicht die Abnehmer, die sich auf die althergebrachten Produkte eingelassen haben.

Warum, fragt Christensen berechtigterweise, gelingt es so gut wie keinem großen, etablierten Unternehmen, radikale Innovationen zu erfinden oder auch nur als Second Mover zu imitieren, obwohl sie viel mehr Ressourcen zur Verfügung haben, als die kleinen Unternehmen, die die disruptiven Innovationen erfinden und realisieren? Bislang lautete die Antwort meist: Schlechtes Management. Aber genau das ist der Trugschluss. Christensen macht überzeugend klar, dass das (Top-)Management im Rahmen der bislang etablierten Logik eines Unternehmens dank seiner Erfolge vielmehr alles richtig macht.

Der Zusammenhang ist bestechend einfach: Unternehmen, die eine gewissen Größe erreicht haben, werden sich aufgrund der etablierten Prozesse und Werte nicht mit einem zunächst kleinen oder sogar winzigen Markt potentieller Abnehmer, der sich obendrein einer Marktanalyse verschließt, abgeben können. Es ist schlicht weder ausreichend lukrativ noch passt die radikale Innovation zu dem Unternehmen.

Es gibt drei mögliche Lösungen des Dilemmas: Erstens können Unternehmen versuchen, die Prozesse und Werte, die im Laufe der Jahre entstanden sind, an die Anforderungen der radikalen Innovation anzupassen. Zweitens wäre es möglich, die Erfinder und Produzenten radikaler Innovationen zu akquirieren. Drittens könnten neue, eigenständige Einheiten in einem bestehenden Unternehmen gegründet werden. Aus der Studie von Christensen ergibt sich eindeutig: Die dritte Variante war bislang die erfolgreichste.

Das Innovationsdilemma fasst Christensen am Ende des Buches in sieben Punkten zusammen:

  1. Der von Kunden geforderte technische Fortschritt muss nicht deckungsgleich mit dem jeweiligen Entwicklungspfad der Technologie sein.
  2. Im Innovationsmanagement spiegeln sich die Ressourcenallokationsprozesse eines Unternehmens.
  3. Markt und Technologie müssen aufeinander abgestimmt werden. „Eine disruptive Innovation ist eine Marketing- und keine Technologieherausforderung.“
  4. Die Fähigkeiten fast aller Unternehmen sind hochgradig spezialisiert und kontextspezifisch. Sie lassen sich nicht einfach auf radikale Innovationen anwenden.
  5. Meistens sind Daten für Investitionsentscheidungen für radikal neue Technologien nicht vorhanden. Das erfordert ein Trial-and-Error Vorgehen, iterative Lernprozesse und intuitive Entscheidungen (ja wirklich!), die nicht zu dem planerisch-analytischen Vorgehen großer Unternehmen passen.
  6. Es gibt keine klaren Vorteile von First- oder Second-Movern. Bei disruptiven Innovationen bietet eine First-Mover Strategie große Vorteile, bei evolutionären Innovationen ist das jedoch nicht zwingend so.
  7. „Der wahrscheinlich wirksamste Schutz für kleine, neu eintretende Unternehmen mit disruptiven Innovationen liegt darin, dass sie etwas tun, was für große etablierte Unternehmen keinen Sinn macht.“

Die Stärke des Buches ist gleichzeitig eine erste Schwäche: Einige der Fallbeispiele werden äußerst detailliert durchexerziert. Das ist für Ingenieure sicherlich bereichernd, für alle anderen Berufszweige aber vermutlich etwas zuviel des Guten. Allerdings ist es möglich, hie und da ein paar Seiten zu überspringen, ohne die wirklich wichtigen Erkenntnisse dabei aus den Augen zu verlieren.
Zweitens ist es schade, dass Christensen selbst in einer alten, reichlich traditionellen Logik verhaftet ist: Er hinterfragt an keiner Stelle das althergebrachte Wachstumsparadigma. Große Unternehmen müssen wachsen, er rechnet dass immer wieder vor. Ja, natürlich müssen sie das, sofern sie für Investitionen auf Fremdkapital angewiesen sind. Denn dann müssen sie nicht nur die geliehenen Kredite sondern zusätzlich die Zinsen bedienen. Das setzt allerdings unser heutiges Geldsystem voraus – das ja keineswegs ein Naturgesetz sondern Menschenwerk ist. Und letztlich ist es genau dieser Wachstumszwang, der das Innovationsdilemma mit auslöst.

Fazit: Dieses Buch ist ein MUSS für alle, die sich in irgendeiner Weise mit Innovationen in Unternehmen befassen: Innovationsmanager, Führungskräfte, die entscheiden, welche möglichen neuen Innovationen zur Entwicklung vorgeschlagen werden und natürlich das Top-Management selbst. Wer dieses Buch gelesen hat, und danach so weitermacht wie bisher, überführt sich dann doch der schlechten Unternehmensführung.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Christensen, C. et al. (2011): The Innovator’s Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren. Vahlen. Gebunden, 264 Seiten. 29,80€

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  1. […] Apple jedenfalls und auch Google sind längst nicht mehr innovativ. Sie sind gefangen im →”Innovator’s Dilemma” und versuchen es durch permanente Zukäufe kleiner, junger, frischer und eben noch […]

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