Integrität als Ergebnis einer gelungenen Organisationsentwicklung

Integrität – ein spannendes Thema, das ich zu lange vernachlässigt habe. Erfreulicherweise änderte sich das mit dem Smartwork Camp 2016 in Graz, denn dort lernte ich die Autorin Sabine Varetza-Pekarz kennen. Sie hielt dort einen Vortrag über Entrepreneurship und streifte dabei auch Ihr Buch. Was ich da hörte, weckte mein Interesse. Auch wenn der Titel wissenschaftlich sperrig wirkt, was natürlich der Tatsache geschuldet ist, dass es sich um eine Masterabschlussarbeit handelt, ist der Inhalt gerade im Zusammenhang mit Unternehmensdemokratie wichtig. Also bat ich Sabine kurzerhand um ein Exemplar und machte mich alsbald ans Lesen. Was dann überraschend leichter fiel, als es der Titel erwarten lies. Soviel schon vorab.

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Sabine macht mit dem Untertitel den Anspruch Ihres Buches sogleich klar: „Eine Handlungsanleitung für Transformationswillige.“ Es geht also weniger um eine brilliante theoretische Durchdringung von was auch immer á la Luhmann. Statt dessen geht es ganz handfest und pragmatisch um die Frage, wie es gelingen kann, Integrität ins Arbeitsleben zu bringen. Sowohl Integrität bei den MitarbeiterInnen als auch bei den jeweiligen Arbeitgebern. Um diesen Anspruch erfolgreich einlösen zu können, bedarf es zu Beginn natürlich erst mal einer Klärung, was denn Integrität überhaupt bedeuten soll. Wie so oft mit Komplexbegriffen (Dietrich Dörner) ist auch hier zu vermuten, das nicht jeder dasselbe darunter versteht.

Integrität wird folgendermaßen definiert:

„Personen besitzen Integrität …, wenn es ihnen möglich ist, von inneren und äußeren Zwängen relativ unbehelligt, (a) ein Leben in Einklang mit dem eigenen standhaltenden Wollen, (b) in den Grenzen des sittlich Tolerablen sowie (c) auf Basis eines integrierten ethisch-existentiellen Selbstverständnisses zu führen, wobei sich insgesamt (d) eine Stimmung der Ganzheit einstellen muss, als deren Minimalbedingung seelische und körperliche Unversehrtheit zu gelten hat.“ (S. 44)

Dabei ist zu beachten, dass Integrität immer eine Innen- und Außenperspektive aufweist, ein Selbst- und ein Fremdbild. Einerseits ist jeder für sein Leben selbst verantwortlich, andererseits ist jeder auch vom Wohlverhalten anderer und somit auch der Organisation, in der er oder sie arbeitet, abhängig. Damit wird klar, dass Integrität nur zu erreichen ist, wenn es „soziale Ermöglichungsbedingungen“ (S. 47) gibt. Dies ist aber davon abhängig, wie Unternehmen und ihr Zweck verstanden werden. Solange der einzige (soziale) Zweck eines Unternehmens die Gewinnmaximierung ist („The business of business is business.“, Milton Friedman), solange wird es um die Integrität schlecht bestellt sein. Denn dann wird die Gewinnerzielung immer über moralisch-ethischer Integrität stehen, sie ist nur leistbar, wenn ein Unternehmen Gewinn macht. Damit wird „die Gesellschaft … zur Sozialhilfeempfängerin der Wirtschaft.“ (S. 50). Das ist wohl nicht besser auf den Punkt zu bringen.

Die Trennung einer marktwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sphäre lässt Sabine durch einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des Begriffs Ökonomie in neuem Licht erscheinen. Sie verweist auf die aristotelische Unterscheidung von Ökonomik und Chrematistik (Kunst des Gelderwerbs): „Die Ökonomie, als Teil der praktischen Philosophie und damit eingebettet in einen ethischen und politischen Rahmen des Gemeinwesens, war die „Wissenschaft von der sittlichen Bewirtschaftung eines Gutes.“ Aristoteles sah die Ökonomie als einen „zur Einhaltung eines bestimmten Maß verpflichtenden Lebensbereich des Menschen.“ Die Chrematistik … bezeichnete Aristoteles hingegen als widernatürlich, weil damit Wohlstand und Geld nicht mehr als Mittel dienen, sondern zum Selbstzweck werden. Geld kann beliebig vermehrt werden und löst sich damit von der eigentlichen Zielsetzung der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse…“ (S. 53)

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Sabine Varetza-Pekarz, Foto © Nikolaus Kurnik

Im weiteren Verlauf bezieht sich die Autorin auf einen systemtheoretischen Ansatz und stellt klar, dass der zentrale Schritt in Richtung einer integren Organisation darin besteht, ein einfaches, lineares Ursache-Wirkungs-Verständnis aufzugeben, in dem die Verantwortung einzelnen Personen zugeschoben wird. Statt dessen sollte folgendes Prinzip zur Geltung kommen:

Niemand ist schuld. Und alle sind verantwortlich.

Auf dem Weg dahin ist jedoch zu beachten, dass Organisationen verschiedene Reifegrade aufweisen können, die einer integren Kultur zuwider laufen oder sie unterstützen. Auf der ersten Stufe der Verleugnung sind die Entscheider einer Organisation (Inhaber, Geschäftsführer, Vorstände) der Auffassung, das Wirtschaften Privatsache sei und der einzige Zweck in der Gewinnmaximierung liege. Auf der zweiten Stufe der Compliance halten sich Unternehmen an rechtliche Vorgaben und machen alles, was nicht expressis verbis verboten ist und zeigen so ein „passives Minimalethos“. Wenn sie auf der dritten Stufe, dem aktiven Issuemanagement angekommen sind, wird den Unternehmen klar, „dass Verantwortungsübernahme über die strenge Gesetzesauslegung hinaus notwendig ist, um langfristig ihre Existenz zu sichern.“ (S. 88). „Ethik als Strategie“ ist dann die vierte Stufe, auf der Ethik zur bewussten Positionierung und Strategie genutzt wird. Dazu gehören dann auch entsprechende Corporate Social Responsibility Aktivitäten, die allerdings häufig eher ein Feigenblatt darstellen. Die letzte Stufe ist die „Geschäftsintegrität“, in der „eine ethische Haltung und Verantwortungsübernahme … um ihrer selbst willen“ (S. 90) zu beobachten ist. Der Schritt von der vierten zur fünften Stufe erfordert einen Paradigmenwechsel, denn nun muss sich Ethik nicht mehr rechnen, sondern wird zum Legitimationsfundament des Unternehmens.

Um auf die fünfte Stufe zur Geschäftsintegrität zu gelangen bedarf es dreier Bausteine. Eine sinngebende Mission, einen echten Stakehoder-Dialog und ein Klima der Integrität. Die sinngebende Mission geht über einen reinen Selbstzweck der Gewinnmaximierung hinaus, damit Zweck und Mittel nicht vertauscht werden. Integre Unternehmen achten auf die „ökologischen Grenzen und sozialen Aspekte ihres Handelns und trachten danach, die Lebensqualität zu fördern und einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten.“ (S. 103) Integre Organisationen beurteilen über diesen ersten Baustein hinaus „die Anliegen der Stakeholder vor allem danach, ob sie legitim sind und nicht danach, wie mächtig … die Stakeholder-Gruppe ist.“ (S. 108). Last not least geht es darum, ein Klima der Integrität zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Das setzt sich wiederum aus affektiven, kognitiven und instrumentellen Facetten zusammen. Affektiv bedeutet das soziale Miteinander, kognitiv bezieht sich auf die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten, Autonomie und intrinsischen Belohnungen der Akteure im Unternehmen. Instrumentell meint die Organisationsstruktur, Hierarchie, Gehaltssysteme und Prozesse.

Aber warum sollte ein Unternehmen das überhaupt alles angehen? Warum sollten sie sich nicht einfach mit einem „passiven Minimalethos“ zufrieden geben? Weil das Klima der Integrität ein maßgeblicher Erfolgsfaktor ist. Eine Studie mit 34 Unternehmen hat gezeigt, dass der Grad der Einbeziehung von MitarbeiterInnen in Unternehmensentscheidungen mit dem wirtschaftlichen Erfolg in späteren Jahren „positiv korreliert und vorhersagbar war.“ (S. 129) Dabei hatten die affektiven Facetten im Vergleich zu den anderen beiden Facetten bezüglich der Arbeitszufriedenheit und Commitment zum Arbeitgeber. Darüber hinaus gibt es aber noch einen essentiellen Grund:

„Die Wahrung von Integrität der Organisation und ihrer Mitglieder ist die einzige Möglichkeit für Entscheidungstragende, ihre persönliche Integrität zu wahren.“ (S. 138)

Der Paradigmenwechsel erfordert die Veränderung von (mindestens) drei Grundannahmen. Erstens, die Annahme, Erfolg Wettbewerb braucht. Zweitens, Wirtschaftswachstum sei die Lösung und drittens, wer das Gold hat, mache die Regeln. Dazu kommen noch andere grundlegende Vorstellungen, wie die Idee, dass wir für Geld arbeiten würden. Sabine zitiert passend dazu Götz Werner, um einen andere Logik anzubieten: „Das Geld zahlen wir ihnen, nicht weil sie die Arbeit erledigt haben, sondern damit sie die Arbeit erledigen können.“ (S. 183, kursiv im Original) Solange wir Arbeiten, um Geld zu verdienen, entsteht häufig ein Schisma zwischen dem, was wir tun um finanziell zu (über)leben und dem, was uns wirklich wichtig ist. Damit wird die Komplexität des Themas deutlich, denn auch an dieser Stelle gibt es eine klare Verbindung von gesellschaftlichen, unternehmerischen und individuellen Grundannahmen und Haltungen.

Um den Transformationsprozess zum integren Unternehmen erfolgreich zu gestalten, muss psychologische Sicherheit geschaffen werden, Führungskräfte ein positives Rollenbild abgeben, Übungsräume und Lernlabore bereit gestellt und Infrastrukturen aufgebaut werden, die echten Dialog zwischen allen Beteiligten ermöglichen. Letzterem, so banal es klingen mag, kommt eine zentrale Bedeutung zu:

„Ausschließlich in der Besprechbarkeit liegt die grundsätzliche Lösung und diese braucht, im Sinne der psychologischen Sicherheit, sichere Infrastrukturen und geschützte Räume, die den Dialog ermöglichen.“ (s. 239)

Vielleicht ist bis hierher deutlich geworden: Die Autorin hat sich in einen wahren Dschungel von systemischen Vernetzungen und Komplexität begeben, der im Rahmen einer Rezension nicht wiederzugeben ist. Ihr ist es gelungen, einen Weg durch dieses Dickicht zu finden und nachvollziehbar zu machen. Was mich nicht wirklich überzeugt hat, war der Bezug auf organisationale und individuelle Entwicklungsmodelle von Glasl, Laloux und Argyris. Diese Modelle sind für meinen Geschmack viel zu schematisch und linear gedacht. Mir fehlen dort iterative Schleifen und Widersprüche, die wir in jedem von uns selbst und natürlich auch in Organisationen finden. Aber niemand ist gezwungen, diese Modelle einzukaufen, um mit dem Buch etwas anfangen zu können.

Fazit: Ein Buch für all jene, die sich Integrität in Organisationen wünschen, egal ob aus der Organisation heraus oder als BeraterIn. Wer bereit ist, die Wissenschaftlichkeit als Qualitätsmerkmal zu begreifen, wird seine Freude daran haben.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Varetza-Pekarz, S. (2016): Integrität als Ergebnis einer gelungenen Organisationsentwicklung. Ein Handbuch für Transformationswillige. Akademiker Verlag. Paperback, 284 Seiten. € 44,90

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Auszug aus dem Cover des Buches
  • Foto S. Varetza-Pekarz: Nikolaus Kurnik
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