Freiheit und Verantwortung für intelligente Organisationen

Was macht eigentlich lebende Systeme lebensfähig? Wie schaffen es Organismen, in einer häufig komplexen und immer wieder lebensbedrohlichen Umgebung jahrelang zu wachsen und dann viele weitere Jahre zu überleben? Einzelne Individuen leben dabei jahrzehntelang. Organisationen als lebende soziale Systeme können natürlich prinzipiell solange leben, wie es Menschen gibt. Und tatsächlich (über-)leben manche Organisationen Jahrhunderte. Gibt es da so etwas wie eine allgemeine, in allen lebenden Systemen vorhandene Funktionsweise? Dieser Frage ist der ehemalige britische Betriebswirt Stafford Beer nachgegangen und hat so das Viable System Model (VSM) entwickelt. Es konnte sich jedoch in der Breite nie durchsetzen, wurde nie richtig bekannt, da es ausgesprochen sperrig war und sich einer leichten Rezeption entzog. Vor einiger Zeit hat mein Autorenkollege vom Blog der Unternehmensdemokraten, der ehemalige deutsche Unternehmer und jetzige Berater und Coach Mark Lambertz den Versuch unternommen, das VSM neu und vor allem verständlich vorzustellen. Es ist gelungen und das Ergebnis lohnt.

Mark beginnt seine Reise ins Viable System Model mit einer kurzen, prägnanten Erläuterung der Umstände unseres heutigen Lebens und damit natürlich auch aller sozialer Systeme: „Die Situation ist komplexer, als es je in der Geschichte der Menschheit der Fall war. Durch eine derart funktional ausdifferenzierte globale Gesellschaft sind neben der technologischen Beschleunigung auch die wechselseitigen Abhängigkeiten (vgl. Geopolitik) exponentiell gewachsen. Die Beschleunigung der Beschleunigung hat sich längst verselbstständigt.“ (S. 9*) Diese sich beschleunigende Komplexität und Dynamik (Dynaxitiy) rechnet Mark kurz anhand eines äußerst simplen Rechenbeispiels durch: Wieviele mögliche Zustände muss ein Manager im Blick haben, wenn er eine Entscheidung zu treffen hätte, die 10 Unternehmensbereiche betrifft und dort jeweils zwei Personen mit je zwei Perspektiven umfasst. Die Antwort: 1.048.576 (= (2hoch2) hoch 10). Nun, wer würde schon behaupten wollen, diese möglichen Optionen tatsächlich überblicken zu können? Wie also schaffen es soziale Systeme, trotz dieser Komplexität zumindest viable, also gangbare Entscheidungen zu fällen?

Lambertz 2016 - VSMNach einem kurzen Überblick über die Geschichte des Begriffs Kybernetik („Kybernetik ist die Wissenschaft von der Kontrolle und Kommunikation in Tier und Maschine.“ S. 23) folgt die Klärung der Begriffe viabel (kurz: lebensfähig), System  und Modell. Ein System ist „ein Ganzes …, das aus einzelnen Elementen aufgebaut ist. Erst durch das Zusammenwirken aller Elemente entstehen Ergebnisse, die den Zweck des Systems definieren.“ (S. 25) Und ein Modell ist ein zwangsläufig reduktionistisches Abbild der Wirklichkeit. Im Falle des VSM soll es für alle lebensfähigen Systeme gültig sein. Insgesamt gilt:  „Das VSM ist ein Werkzeug, um ein lebensfähiges Ganzes, das aus Einzelteilen zusammengesetzt ist und die eigene Existenz aufrechterhalten kann, erst zu verstehen und dann zu steuern.“ (a.a.O., kursiv: Andreas Zeuch) Es geht also nicht um theoretische Selbstbefriedigung sondern um klare Funktionalität.

Ein fundamentaler Aspekt des VSM ist dabei die Varietät als Anzahl möglicher Zustände eines Systems. Praktisch äußert sie sich in verschiedenen Zielen, Handlungsoptionen, Ergebnissen und Abhängigkeiten von Systemelementen. Jemand, der oder die ein System kontrollieren (also steuern) will, muss über ein Modell verfügen, dass das zu steuernde System und dessen Umfeld ausreichend passend abbildet. Dann gilt Ashbys Law: „Die Varietät des Controllers muss mindestens gleich oder höher als die Varietät der Situation sein, welche kontrolliert werden soll.“ Dieses immer wieder anzutreffende, abstrakt anmutende „Gesetz“ erläutert Mark wunderbar einleuchtend (im wahrsten Sinne des Wortes) anhand eines Schaltkreises und einer Problembehebung in diesem technischen System. Sobald wir eines der Bauteile nicht in unserem mentalen Modell abgebildet haben, ist eine Fehlerbehebung nicht unmöglich, aber deutlich erschwert. Das gilt natürlich auch für die Führung von Organisationen.

Mark Lambertz

Mark Lambertz

Alle lebensfähigen Systeme sind grundsätzlich in die beiden Bereiche Handlung und Planung unterteilt, also sehr ähnlich der tayloristischen Unterscheidung von Management und Ausführung. „Diese Entität ist in eine Umgebung bzw. Umwelt eingebettet, aus der das System Ressourcen bezieht. Diese Ressourcen sind notwendig, um etwas zu produzieren, was die Lebensfähigkeit des Systems sicherstellt.“ (S. 31) Daraus leitet sich dann in beinahe gnadenloser Logik der Zweck des Systems ab, der in dem liegt, was es erfolgreich leistet. Und das muss keineswegs deckungsgleich mit dem sein, was in irgendwelchen Mission Statements steht.

Im Laufe des Buches entfaltet Mark die grundlegenden Strukturen, Prinzipien und Axiome lebender (sozialer) Systeme. Das läuft auf einen „Bauplan“ hinaus, der einen am Ende des Buches trotz der bis dahin (hoffentlich) erfolgten intensiven Auseinandersetzung mit dem VSM das Großhirn ordentlich verquirlt. Aber das ist halt so bei einem komplexen Thema. Es lässt sich nicht, wie ein ehemaliger Freund von mir mal sagte, „herunterdummen“. Es lässt sich nur mit einer maximal möglichen Klarheit formulieren und strukturieren. Und genau im letzten Punkt liegt für mich eine der Schwächen des Buches: 35 Kapitel auf 172 Seiten (2. Auflage) sind einfach zuviel. Das ist für mich viel zu kleinteilig. Ich wusste oft nicht mehr wo ich war, musste hin und herspringen, suchen.

Ja, man und frau müssen schon eine gewisse intelektuelle Leidensfähigkeit mitbringen, um Freude bei dieser Tour de Force zu erleben. Die grafischen Darstellungen des VSM wirken sehr technisch und beinahe menschenfeindlich und auf genau diese Kritik geht Mark auch im Kapitel 28 ein. Dort stellt er dann auch klar: „Es geht in seinem Modell nicht um Allmachtsfantasien kybernetischer Vollkontrolle, sondern um den Erhalt der Lebensfähigkeit unter Würdigung der Bedürfnisse der Individuen in der Organisation.“ (S. 139) Und so wird die Kritik am VSM zum Ausgangspunkt einer konstruktiven Interpretation durch den Autoren. Im 28ten Kapitel geht er auf die Bedeutung des VSM für die Praxis ein: Es ist ein Diagnosewerkzeug und kann den „Zusammenhalt (im System) immens fördern“, sofern gilt: „Jeder Teil des Ganzen sollte seinen professionellen Erfolg daran messen, wie erfolgreich der nächste in der Prozesskette mit den vorherigen Ergebnissen weiterarbeiten kann.“ (S. 145f)

Fazit: Kein Buch für die Masse. Aber niemand wird behaupten, dass die Bildzeitung wahrhaftigere und nützlichere Informationen zur Verfügung stellt als die Zeit, nur weil sie leichter zu lesen ist. Es ist ein Buch für alle, die bereit sind, tief einzutauchen ins Verständnis lebender Systeme.

Herzliche Grüße

Andreas

 

* Die Zitationen entstammen der 1. Auflage. Die Seitenzahlen weichen in der 2. Auflage leicht ab.

 

Lambertz, M. (2016): Freiheit und Verantwortung für intelligente Organisationen. Self Publisher. Hardcover, 172 Seiten. € 29,- (für Amazon Prime Kunden als Kindle Version kostenlos ausleihbar).

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