Organisation für Komplexität

Liebe Leserinnen und Leser!

Keine Frage, wir leben immer noch in den betriebswirtschaftlichen Anfängen des 19. Jahrhunderts. Zumindest was das Menschenbild der meisten Unternehmensführer angeht und die damit verbundenen Strukturen, Kulturen und Managementtechniken. Ich durfte das selbst vor kurzem wieder nach einem Vortrag erleben. Abbau formaler Hierarchie? Nein, das geht nur bei kleinen, neu gegründeten Unternehmen. Und überhaupt: Nicht jeder will Verantwortung übernehmen. Da ist sie wieder: Die alte abgeklärte Weisheit, es könne nicht nur Häuptlinge geben. Wir brauchen auch Indianer. Um langsam aber sicher mit diesem Blödsinn aufzuräumen, ist Niels neues Buch ein guter Beitrag.

Pfläging 2013 - Organisation für Komplexität

Nach seinen bisherigen Fach- und Sachbuch Veröffentlichungen (vgl. →“Führen mit flexiblen Zielen„) wollte Niels einen Ratgeber schreiben. Das ist ihm gelungen. Das Buch liest sich locker in einem Rutsch, zumindest, wenn man sich schon mit einigen der Themen, Fragen und Problemen beschäftigt hat, die in diesem Buch gestreift werden. Und für alle, die noch nie etwas von Zell-Design oder Marktzug gehört haben, ist es eine gute Hinführung, eine erste, gut verdauliche Auseinandersetzung mit herausfordernden Aufgaben der Unternehmens-Transformation. So weit so gut. „Das Buch ist vielseitig lesbar. Als Lehrbuch zu Denken über Organisation. .. Als Inspirationsbuch. … Als Wörterbuch. … Als Arbeitsbuch.“ (S. 8) Mal abgesehen davon, dass ich es nicht wirklich als Lehrbuch sehen würde, sind die anderen Lesarten absolut berechtigt.

In sieben Kapiteln arbeitet sich Niels durch die Aufgaben, Risiken und Chancen einer Transformation hin zu einer „Beta-Organisation“. Das ist die Organisationsform der Zukunft, die in dynamischen, komplexen Marktumfeldern erfolgreich handeln kann – im Gegensatz zu Alpha-Organisationen, die aufgrund bürokratischer Zementierung vermutlich zu langsam und unflexibel werden. Der Ausgangspunkt ist, wie könnte es anders sein, Frederick Taylor mit seinem 1911 auf Englisch erschienenen „Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung.“ Das A und O war die Trennung von Denken und Handeln, von Planung und Ausführung. Dadurch entstanden unter anderem drei „system-immanente Lücken von Management“ (S. 13):

  • Die soziale Lücke durch formale Hierarchie und die damit verbundene Verneinung sozialer Prozesse. Management by Numbers ersetzt das echte Miteinander.
  • Die funktionale Lücke entsteht durch die funktionale Trennung, die Zuständigkeitsdenken und verkürzte Teilaufgaben hervorruft.
  • Die zeitliche Trennung ist die logische Konsequenz der Trennung von Denken/Planen und Handeln/Ausführen.

Darüber hinaus macht Niels schnell klar, dass die mechanistische Anweisungslogik des Taylorismus nur für komplizierte, vorhersagbare und damit kontrollierbare Umfelder und Aufgaben geeignet ist (mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass auch dort Mitarbeiter für dumm verkauft werden). Sobald Unternehmen und Organisationen aber in einem dynamischen, komplexen Umfeld überleben und erfolgreich sein wollen, führt genau diese Trennung zu einer zerstörerischen, weil lähmenden Bürokratisierung. Denn der ganze Werkzeugkasten althergebrachter Management-Werkzeuge hilft nicht, mit unvorhersehbaren, nicht planbaren Prozessen und Wirk-lichkeiten umzugehen.

„Wer eine Lösung sucht, hat ein Problem“ – heißt es in systematischen Kreisen. Aber worin besteht das Problem eigentlich und wer definiert es? Niels Beitrag zu dieser wichtigen Frage besteht darin, erst mal klar zu stellen, dass viele Probleme Etikettenschwindel sind. Denn es handelt sich um vielfältige Symptome, die auf einige wenige tatsächliche Probleme verweisen. Mir persönlich hat diese Anmerkung sehr gut gefallen. Denn was so alles zum Problem stilisiert wird, ohne die dahinter liegenden Auslöser zu erforschen, stört mich schon seit geraumer Zeit.

Nach dieser schon weitreichenden Darlegung der Grundlagen im ersten Kapitel widmet sich Niels in den folgenden sechs Kapiteln den Menschen und unseren Bildern von uns selbst und anderen, die bis heute grundlegend sind (Kapitel 2), selbststeuernden Teams und Netzwerkorganisationen (Kapitel 3), einem Design für Komplexität (Kapitel 4), der Frage, wie dynamikrobuste Netzwerke entwickelt werden können (Kapitel 5), Führung in Komplexität (Kapitel 6) und schlussendlich der großen Entscheidungsfrage: Stecken bleiben oder transformieren (Kapitel 7). In all diesen Kapiteln gibt Niels immer wieder konkrete Tipps und stellt kurz Übungen oder Methoden auf dem Weg zur Beta-Organisation vor.

Ein paar kritische Anmerkungen bleiben: „Kulturentwicklungsprojekte können nur scheitern.“ (S. 54) – Nun denn, wer mich kennt, weiß, dass ich ein Problem mit Universalquantoren der Sprache habe. Sprich: In den meisten Fällen ist ein „immer“, „nie“, „jedesmal“, „alle“ und so weiter und so fort ziemlich weit weg von einer viel abwechslungsreicheren Wirklichkeit. Natürlich können Kulturentwicklungsprojekte unter bestimmten Bedingungen erfolgreich sein. Allein: Ich bezweifle zunehmend mehr, dass es besonders sinnvoll, effektiv und effizient ist, an der Kultur als eigenständigem Thema herumzuschrauben und zu -doktern. Denn wer losgelöst von täglichen Aufgaben erst mal in den Hochseilgarten rennt, muss anschließend immer eine Transferleistung erbringen. Und leider ist die Transferlücke nach derartigen Veranstaltungen zumeist mit bis zu 80% ziemlich desillusionierend. Viel intelligenter ist es meiner Erfahrung nach, reale Arbeitsprozesse zu Vehikeln für Kulturentwicklung zu machen. Dadurch, dass anstehende Aufgaben anders als bisher erledigt werden, ändert sich die Kultur. Und dann brauch es keinen Transfer mehr. Genauso halte ich es für eine gewagte Aussage, dass sich niemand der Kultur fügen müsse – ja, wenn er oder sie bereit ist, vom System ganz schnell wieder ausgespuckt zu werden. Wer in einem sozialen System bleiben will, muss sich gewissen dort herrschenden Grundregeln anpassen. Und das Kultur Veränderung weder im Wege stehen würde, noch sie begünstigen würde (a.a.O.) halte ich schlicht für eine Mär. Natürlich gibt es deutliche Unterschiede hinsichtlich der Veränderungsresistenz in verschiedenen Kulturen.

Und dann fand ich ein paar Seiten weiter noch einen für mich unauflösbaren Widerspruch: „Erfolg ist keine Nullsummenspiel. Und auch nicht „Win-Win“. Was aber ist ein Spiel, wenn „dauerhaft überlegene Wertschöpfung für alle Anspruchsgruppen entsteht.“? (S. 77). Auf Seite 82 schreibt Niels auch noch von einer „Kultur des gemeinsamen Gewinnens.“ (S. 82) – Ja was denn nun? Spieltheoretisch wüsste ich nicht, um was es sich handelt, wenn nicht um Win-Win.

„Wer sich beim Thema offener Bücher und Transparenz instinktiv Gedanken über mögliche Gefahren macht, der sollte noch einmal über Einstellungspolitik und Menschenbild nachdenken.“ (S. 83) – Transparenz ist in einer Wirtschaft, die dem Menschen dient, wichtig. Sie ist unabdingbar. An Ihr führt kein Weg vorbei. Intransparenz und Zugriffsrechte sind vor allem Machtspiele. Indes gibt es häufig gesetzliche Vorgaben. Das mag manchmal völliger Unfug und sinnentleerte Juristerei sein, manchmal sicherlich hochgradig sinnvoll, eines aber ist es immer (und das meine ich diesmal genau so: immer): Eine Faktizität, mit der man sich auseinandersetzen muss. Wer also darüber nachdenkt, muss noch lange nicht über seine Einstellungspolitik und sein Menschenbild nachdenken.

Schade, dass im Literaturverzeichnis am Ende einige Bücher nicht aufgeführt sind, die aus meiner Sicht dorthin gehören. Eines jedenfalls auf alle Fälle: Gebhard Borcks →“Affenmärchen„, in dem er das Konzept der Sinnkopplung entwirft, auf das Niels sich ebenfalls bezieht. Banales zum Abschluss: In der mir vorliegenden Ausgabe ist die Seite 101 nur teilweise zu lesen. Der Text verläuft schräg über die Seite und ist am unteren Rand abgeschnitten. Schlamperei seitens BOD – hier sollte der Verlag seine Hausaufgaben nachholen.

Fazit: Diesen kleinen Ratgeber sollte jeder lesen, der sein Start-up davor bewahren möchte, infolge einer nötigen „Management-Professionalisierung“ in Bürokratie zu ersticken. Und es sollte jeder lesen, der sein Unternehmen gerne aus der längst entstandenen Bürokratiefalle herausführen will.

 

Herzliche Grüße

Andreas Zeuch

 

Pfläging, N. (2013): Organisation für Komplexität. Wie Arbeit wieder lebendig wird – und Höchstleistung entsteht. Books on Demand. Taschenbuch, 112 Seiten. 9,90€

2 Kommentare
  1. Martin Bartonitz
    Martin Bartonitz sagte:

    Lieber Andreas,
    was soll ich denn nun noch schreiben, wo eigentlich Alles gesagt ist? Treffer und versenkt, und ja, unbedingt lesenwert!
    Viele Grüße
    Martin

    Antworten
  2. Niels Pflaeging
    Niels Pflaeging sagte:

    Lieber Andreas, soeben habe ich diese Rezension von dir „wiedergefunden“ und sie mit Schmunzeln und Freude noch einmal gelesen!
    Eine Ergänzung möchte ich unbedingt hier hinterlassen – sie bezieht sich auf den vorletzten Absatz der Rezension: BoD und Redline (wo das Buch inzwischen verlegt ist) haben auf der genannten Seite 101 in der Erstausgabe nichts falsch gemacht! Richtig ist: Der Text läuft dort „über den unteren Seitenrand hinaus“, wird also quasi abgeschnitten, was den Eindruck eines „Druckfehlers“ hinterlassen könnte. Es ist aber keiner: Der Text läuft hier aus einem ganz bestimmten, metaphorischen Grund über den Seitenrand hinaus… ich lade jeden Leser ein, diesen Grund zu erraten!

    Keep on reviewing, Andreas! Du machst das toll!

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