Neuromythologie

Liebe Leserinnen und Leser!

Was treibt mich an, ein kritisches Buch über Neurowissenschaften mit ihren zeitgeistig so hip anmutenden Untersuchungsmethoden bildgebender Verfahren hier in diesem Blog zu empfehlen? Was hat das mit menschlicher (Betriebs-)Wirtschaft zu tun? Die Antwort: Es handelt sich um einen Hype, der mittlerweile fast alle Lebensbereiche durchdringt, ohne dass dies wissenschaftlich haltbar wäre – und damit natürlich auch unsere Wirtschaft und zwar in mehrfacher Hinsicht. Vor allem aber: Der „Brachialreduktionismus“ (Felix Hasler) der selbsternannten wissenschaftlichen Leitdisziplin hat durchaus das Zeug dazu, gefährlich nahe an eine menschenverachtende, totalitäre Gesellschaft zu führen.

Das die Neurowissenschaften mittlerweile ommipräsent sind, zeigt folgende Auflistung des Autors: „Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind im Jahr 2012 an Neuro-Bindestrich-Wissenschaften zu vermelden: Neuro-Philosophie und Neuro-Epistemologie, Neuro-Soziologie, Neuro-Theologie, Neuro-Ethik, Neuro-Ökonomie, Neuro-Didaktik, Neuro-Marketing, Neuro-Recht, Neuro-Kriminologie und Neuro-Forensik, Neuro-Finanzwissenschaften, Neuro-Verhaltensforschung und Neuro-Anthropologie. Wem das als Forscher noch zu mainstream ist, für den gäbe es noch Neuro-Ästhetik, Neuro-Kinematographie, Neuro-Kunstgeschichte, Neuro-Musikwissenschaften, Neuro-Germanistik, Neuro-Semiotik, Neuro-Politikwissenschaften, Neuro-Architektur, Neuro-Psychoanalyse und Neuro-Ergonomie. Nicht zu vergessen die sozialen Neurowissenschaften.“ (S. 15)
Felix Hasler weiß wovon er schreibt, er hat selbst 10 Jahre lang in der in der Arbeitsgruppe Neuropsychopharmacology und Brain Imaging an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich gearbeitet. Und er nimmt sich sympathischer und glaubwürdigerweise zunächst selbst in die Kritik: „Häufig war ich selbst derjenige, der einer allzu simplen mechanistischen Sichtweise aufgesessen ist und der den alles dominierenden »neuro-talk« unreflektiert übernommen hat.“ (S. 9)

Wir haben es wahrlich mit einem nicht zu unterschätzenden Hype zu tun. Die Heilsversprechen verschiedener Akteure lassen keinen anderen Schluss zu, als dass hier ein veritabler Größenwahn am Werke ist: Wir haben es mit einer „gigantischen, historischen Unvermeidbarkeit“ zu tun, stehen am Beginne einer „Neuron-Revolution“. Beide Zitate stammen vom Neuro-Propheten (Hasler) Zack Lynch, dem Gründer der Neurotechnology Industry Organization. Aber eine Übertreibung macht noch keinen Hype aus. Natürlich gibt es noch weitere Hellseher, die uns von der historischen Unvermeidbarkeit überzeugen wollen. „David King, Chefbeamter und Projektleiter der »Foresight«-Studie »Hirnforschung, Sucht und Drogen«“ kennt die Zukunft: Die größten Veränderungen, die wir im einundzwanzigsten Jahrhundert sehen werden, könnten uns durch Fortschritte in unserem Verständnis des Gehirns gebracht werden. [….] Wir stehen unmittelbar vor Entwicklungen, die uns womöglich in eine Welt führen, in der wir Drogen nehmen, die uns helfen zu lernen, schneller zu denken, zu entspannen, wirksamer zu schlafen, oder sogar unsere Stimmung subtil der unserer Freunde anzupassen. Dies hätte Auswirkungen für jeden Einzelnen und könnte zu fundamentalen Veränderungen in unserem Verhalten als Gesellschaft führen.“ (S. 12) Willkommen in der schönen neuen Welt! 

Das Bündel der Neurowissenschaften scheint im Kern auf einem einfachen Phänomen gegründet: Wenn man uns neurowissenschafltichen Laien beeindruckende (bunte) Bilder zeigt, die zerebrale Prozesse und Strukturen abzubilden scheinen, dann muss es sich wohl um besonders fundierte und fortschrittliche Erkenntnisse handeln. Und die sind natürlich infolge medienwirksamer Inszenierungen modernster High-Tech Untersuchungsmethoden mit Magnetresonanztomographie (MRT) und funktionaler Magnetresonanztomographie (fMRT) durch und durch auf der Höhe der Zeit. Sie spiegeln unsere Sehnsucht, die Welt in all ihren Facetten endgültig zu erklären. Treffend zitiert Hasler Martha Farah von der University of Pennsylvania: „Hirnbilder sind die Wissenschaftsikonen unserer Zeit, die Bohrs Atommodell als Symbol für Wissenschaft ersetzt haben.“ (S.20)
Das diese Methoden allerdings weitaus weniger exakt sind, als Laien erahnen, wird von den neurowissenschaftlichen Protagonisten verschwiegen und zum Teil aktiv verschleiert. Hasler erklärt auf verständliche Weise, warum die bildgebenden Verfahren eben alles andere sind, als ein Inbegriff wissenschaftlicher Präzision und zwingender Folgerichtigkeit. Hier die wichtigsten Fakten:

  • Es gibt bislang keinen einheitlichen Standard zur Anwendung und Auswertung bildgebender Verfahren. Das methodische Vorgehen in Studien ist äußerst unterschiedlich und häufig weder vergleichbar noch reproduzierbar.
  • Die Ergebnisse von MRTs und fMRTs sind eine aufwändige und reichlich fehleranfällige komplizierte Kette methodischer Entscheidungen sowohl im Vorfeld als auch in der Auswertung der Messungen.
  • Funktionale Magnetresonanztomographie (fMRT) sind nicht einfache „Fotografien“ von neurologischen Prozessen in unserem Gehirn. Sie sind Analogieschlüsse, die auf komplexen Umrechnungsmethoden basieren: „Die Anatomie abbildende strukturelle MRT ist zur funktionellen MRT … weiterentwickelt worden. Die Bilder sehen immer noch sehr ähnlich aus, sind dem Wesen nach aber etwas völlig anderes. Die funktionellen Gegebenheiten im Gehirn können nämlich nur indirekt abgeschätzt werden. Dies geschieht in der Praxis durch die Messung der zeitabhängigen lokalen Veränderung von Blutfluss und Sauerstoff-Verbrauch.“ (S. 42, kursiv: AZ)

Diese methodischen und erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten wurden von ein paar äußerst findigen und humorvollen Wissenschaftlern nachhaltig inszeniert und illustriert: Eine kleine Forschergruppe legte einen ausgewachsenen Lachs in einen MRT-Scanner und zeigten ihm Bilder menschlicher sozialer Interaktionen. Die dabei entstandenen Daten unterzogen die Forscher statistischen Auswertungen, wie sie häufig gemacht werden. „Und siehe da, im Gehirn des Lachses sind tatsächlich mehrere zusammenhängende Stellen mit erhöhter Aktivität errechnet worden.“ (S. 51) Ok, das ist ja an sich schon erstaunlich, aber der Knüller kommt noch: Der Lachs war längst tot!
Dieses herrlich absurde Phänomen taucht auf, wenn statistischen Daten für multiple Vergleiche nicht korrigiert werden. Erfolgt die Korrektur, verschwinden die mystischen Hirnaktivitäten des toten Lachses. Das dies mehr als ein gutgemachter Jux ist, zeigte eine rückwirkende Analyse von fMRT Studien: Bis zu 40% der Studien wiesen keine Korrektur multipler Vergleiche auf.

Felix Hasler im Video zum Buch

Die Neurowissenschaften bohren sich trotz vieler offener Fragen auch in unsere Wirtschaft. Erstens in Form der Forschungsdisziplin „Neuro-Ökonomie“. Zweitens als Begründungsgrundlage einer neuen, knallhart mechanistischen Bio-Psychiatrie, die mit einem Milliardenvolumen Psychopharmaka herstellt, die alles andere als belegbar gesund machen. Vielmehr stellt sich die Frage, ob Prozac & Co. nicht Teil des Problems sind, dass sie zu lösen vorgeben. Drittens sind die Neurowissenschaften selbst längst zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig geworden, dem es allerdings häufig an belastbaren Belegen mangelt, wie eben beschrieben.

Die neue, ultramechanistische Bio-Psychiatrie ging mir am meisten an die Nieren. Hasler widmet diesem Unterthema ein sehr ausführliches Kapitel. Ich selbst bin infolge meiner Jahre zurückliegenden Ausbildung zum Diplom-Musiktherapeuten natürlich auch mit medizinischen Hypothesen zur Verursachung psychischer Krankheiten wie Depressionen, Manien, sogenannten bipolaren Störungen, Schizophrenien und dergleichen mehr ausgiebig in Berührung gekommen. Und damit ebenso mit den üblichen Verdächtigen an psychiatrischen Medikationen. Ich hatte schon lange erkenntnistheoretisch begründete Zweifel, wie wir denn überhaupt Henne und Ei unterscheiden wollen – sprich: Sind die Störungen im Neurotransmitterhaushalt Ursache oder Folge psychischer Erkrankungen? Hasler geht aber über diese Frage deutlich hinaus, er hat in beeindruckender Fleißarbeit Studien gesammelt und ausgewertet und präsentiert die erschreckenden Ergebnisse inclusive eines absolut hollywoodreifen, tragischen Psychopharmaka-Thrillers um die Entwicklung, Testung und massenhafte Vermarktung des amerikanischen Antidepressivas Prozac. Dagegen wirkt der „Ewige Gärtner“ beinahe harmlos.
Bezüglich der Wirksamkeit zeigte sich immer wieder, dass die Einnahme von Antidepressiva nach Absetzen einer längeren Einnahmephase zu einer Verstärkung der anfänglichen Symptome führt. Das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit der weiteren Einnahme. Dazu gesellt sich das Problem, dass depressive Patienten, die über einen längeren Zeitraum mit Antidepressiva behandelt wurden, öfter zu einer Entwicklung bipolarer Störungen, also dem Wechsel zwischen depressiven und manischen Phasen, neigen, als Patienten, die nicht pharmazeutisch behandelt wurden. Das Perverse dabei: Der Pharma-Industrie ist dies in vielen Fällen sehr wohl bekannt. Aber der Markt ist einfach zu lukrativ. Und so gibt es denn mittlerweile auch „Condition Branding“: Agenturen, die sich als Dienstleister um die Menschheit verdient machen, indem sie durch geschickte Werbung und PR eine Ausweitung der Kampfzone vornehmen. Sie sorgen dafür, dass heute als krank und psychopharmazeutisch behandlungsbedürftig gilt, was ehedem eine normale, menschliche Verstimmung war. Eben Teil eines üblichen Auf und Ab in unserem Leben. Auch DAS ist krankes Wirtschaften. Wiederlicherweise im doppelten Sinne.

Totalitär droht es zu werden, wenn die Befürworter einer neurowissenschaftlich grundierten Gesellschaft via Hirnscans und sonstiger Neuro-Untersuchungen Gewalttaten und Drogenabhängigkeiten präventiv stoppen wollen. Aus dem Traum der Erkenntnis wird schnell ein dystopischer Alptraum. Vor allem einmal mehr deshalb, weil wirkliche Marker fehlen, die mit ausreichend großer Sicherheit voraussagen, dass jemand gewalttätig wird. Der immer noch sicherste Marker ist, wie Hasler sarkastisch klarstellt, das Y-Chromosom: „Schließlich begehen Männer 90 Prozent aller schweren Gewaltverbrechen und über 99 Prozent aller Vergewaltigungen. Sämtliche Männer dieser Welt zur Verbrechensprävention in lebenslanger Sicherheitsverwahrung unterzubringen wäre zwar ein hoch effektive, aber irgendwie trotzdem nicht überzeugende Lösung.“ (S. 212)

Zum Schluss macht Hasler nochmals klar, dass er die Neurowissenschaften nicht verdammen will. Es geht ihm darum, die manischen Höhenflüge auf den Boden der Tatsachen zu holen. Schließlich hegten wir vor nicht allzulanger Zeit mit der Genetik sehr ähnliche durch und durch übertriebene Erwartungen (wie auch Rupert Sheldrake im →“Wissenschaftswahn“ zeigte). Nach der Manie folgt die Depression, aber wir sollten gemeinsam dafür sorgen, dass wir durch die Zweifel auf gesunde Weise zu einem ausgeglichenen Verhältnis zu den Neurowissenschaften finden. Höchstwahrscheinlich werden wir Ihnen wichtige Erkenntnisse und Fortschritte verdanken, aber ohne den ultimativen alles erklärenden und lösenden Anspruch eines Größenwahnsinnigen, der jeglichen Kontakt zur Realität verloren hat.

Fazit: Ein Buch für jeden aufgeklärten, vernünftig und kritisch denkenden Menschen. Insbesondere aber für all diejenigen, die in irgendeiner Weise etwas mit dem Thema der neuen, selbsternannten wissenschaftlichen Leitdisziplin zu tun haben.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Hasler, F. (2013): Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Transcript Verlag. Gebunden 262 Seiten. 22,80€

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