Infotopia

Liebe Leserinnen und Leser!

Über die Lektüre von Eli Parisers →“Filter Bubble“ bin ich auf den amerikanischen Juraprofessor Cass Sunstein aufmerksam geworden: In seinem im amerikanischen Original bereits 2006 vorgelegten Buch Infotopia widmet er sich der kollektiven „Vorbereitung und Produktion“ von Wissen. Dies ist längst nicht mehr die alleinige Aufgabe weniger Experten, sondern eine Herausforderung, an der seit der Erfindung und Entwicklung des Internets zunehmend mehr Menschen beteiligt sind. Seit den 1990ern sind dabei internetbasierte Technologien entstanden, die Impulse für erfolgreichere Zusammenarbeit und Entscheidungsprozesse in Gruppen geben. Prognosemärkte, Wikis, Open Source Projekte und Blogs bieten vielfältige Anregungen, wie wir verteiltes Wissen besser zusammenführen können als bisher. Und das ist eine der zentralen Herausforderungen, um der steigenden Komplexität und Dynamik unserer (Wirtschafts-)Welt gerecht zu werden. Glücklicherweise gilt dabei: „Was die Aggregation von Informationen angeht, befinden wir uns noch ganz am Anfang einer Revolution.“ (S. 19)

Gleich zu Beginn hat mich beeindruckt, dass Sunstein bereits fünf Jahre vor Pariser das Problem der „Informationskokons“ aufgreift und reflektiert – und zwar begrifflich für mich wesentlich überzeugender als Pariser mit seiner „Filter Blase“. Wenn es mit der Personalisierung im Netz so weitergeht, werden wir alle bald in Informationskokons eingeschlossen sein, werden nicht trotz, sondern infolge informationstechnologischer Fortschritte in „Echokammern“ nur noch unsere eigenen Interessen als Widerhall vernehmen. Alles was jenseits dessen liegt, droht zu verstummen. Natürlich war dies bis zu einem gewissen Grade schon immer so, aber mit der Personalisierung im Netz wird dieses Problem immer größer. Früher sahen alle die gleichen Schlagzeilen in einer Zeitung, aber zukünftig werden, wenn die Printversionen der Zeitungen zunehmend verschwinden, die Onlineversionen automatisch an die Interessen Ihrer Leser angepasst werden. Wer sich einen Dreck um Innen- oder Außenpolitik schert, muss die ersten Seiten der Zeitung nicht mehr überblättern, sondern bekommt diese Informationen erst gar nicht mehr präsentiert. Damit ist auch die unbewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung verunmöglicht. Gleichzeitig wird dieses Phänomen vermutlich dazu führen, dass Informationen zunehmend mehr über viele Einzelpersonen verstreut sind. Also stellt sich noch dringlicher als bislang die Frage: Wie bringen wir die verschiedenen Puzzlestücke zusammen?

Die bisherige, konservative Lösung besteht in diskutierenden Gruppen. Leider versagen diese Gruppen mindestens genauso oft, wenn nicht sogar häufiger, als dass sie erfolgreiche Ergebnisse hervorbringen. Meist polarisieren sich Meinungen noch mehr als zuvor und darüber hinausgehende Standpunkte, Meinungen, Sichtweisen werden unterdrückt. Dummerweise werden Informationen, die bei vielen Personen vorhanden sind, öfter ausgetauscht und diskutiert, als neue oder abweichende Informationen, die einen relevanten Unterschied bedeuten würden. Es entstehen meistens „verdeckte Profile“. Tatsächlich vorhandene, für eine Gruppe neuen Informationen, werden von den Menschen, die über diese Informationen verfügen, nicht mehr mitgeteilt. Damit wird Fehlerkorrektur und Kreativität der Garaus gemacht. Sunstein untersucht die zwei wichtigsten Mechanismen, die uns daran hindern, verteilte Informationen zusammenzuführen:
Informationskaskaden – entstehen, wenn sich Mitglieder einer Gruppe vorherigen Äußerungen anderer Gruppenmitglieder anschließen, weil sie davon ausgehen, dass die anderen Positionen stichhaltiger sind als die eigenen. Je mehr Personen sich dieser zuerst geäußerten Meinung anschließen, um so schwieriger wird es für folgende Gruppenmitglieder, ihre tatsächliche, abweichende Sicht der Dinge darzulegen. Denn es wird subjektiv immer unwahrscheinlicher, dass sich eine wachsende Anzahl an Gruppenmitgliedern täuscht.
Reputationskaskaden – entstehen, weil zunehmend mehr Gruppenmitglieder sich der Mehrheit anschließen, um Ihr Ansehen nicht zu gefährden. Im Gegensatz zu Informationskaskaden haben die Personen auch weiterhin eine andere Meinung, wollen die aber aus sozialen Gründen nicht mitteilen.

Aber es gibt auch die gute Seite moderner Informationstechnologien: Prognosemärkte, Wikis, Open Source Projekte und Blogs – sie sind der Gegenstand der weiteren Kapitel. Was Sunstein insbesondere bei den ersten drei findet (und was dem einen oder anderen bekannt sein dürfte), macht Mut, dass wir Mittel und Wege finden können, um die oben genannten Kaskaden und verdeckten Profile zu überwinden und so das Puzzle zusammenzusetzen.

  • Prognosemärkte lösen zunächst das Problem der verdeckten Profile. Denn hier muss niemand befürchten, aufgrund einer abweichenden Meinung in irgend einer Weise soziale Nachteile in der Gruppe zu erleiden. Denn schließlich erfährt niemand, wer welche Meinung vertritt und wer wie agiert. Alles bleibt anonym. Die meist positiven Ergebnisse dieser Methode sprechen für sich. Fast jeder Prognosemarkt ist wesentlich effektiver als kleine Expertengruppen.
  • Wikipedia verdeutlichen: Tausende von Menschen haben freiwillig die seit Menschengedenken größte Enzypklopädie verfasst – ohne daran zu verdienen. Und sie wächst und wächst, immer weiter. Niemand muss ausgewiesener Experte sein, um einen Beitrag ändern zu können oder einen neuen zu verfassen. Diesbezüglich sind Wikis die perfekte Realisierung eines machtfreien Diskurses. Natürlich gibt es auch hier Probleme, wie Editwars und neurotische Administratoren zeigen, die durchaus richtige und nützliche Einträge aus unerfindlichen Gründen wieder löschen. Trotzdem gilt: Jeder darf mitschreiben und muss keine Sanktionen befürchten. Im Gegenteil: Er oder Sie kann auch keine besondere Reputation erwarten, denn niemand wird sich als Autor von Wikiartikeln einen Namen machen.
  • Open Source Projekte, wie die Entwicklung von Linux, strafen jeden konservativen Ökonomen Lügen, der immer noch an die alberne Vormacht finanzieller Anreize glaubt. Tausende Menschen arbeiten seit Jahren kontinuierlich an verschiedenen Projekten, ohne davon direkt finanziell zu profitieren. Der Mechanismus der Informationsaggregation ist dabei allerdings anders, als bei Wikis. Es gibt keine temporäre Diktatur des letzten Eintrags. Wer Code schreibt, muss ihn an ein Expertengremium einreichen. Dort wird er geprüft und erst nach seinem Bestehen darf er in den vorhandenen Gesamtcode integriert werden.

Zwei inhaltliche Punkte sind nicht nachvollziehbar. Erstens spricht Sunstein das ganze Buch über immer wieder von den „richtigen“ oder „wahren“ Antworten die es zu finden gilt. Natürlich gibt es auch in der Postmoderne durchaus hie und da solch eindimensionale Antworten, selbst auf komplizierte Fragen. Allerdings wäre es voll kaum vermessen zu behaupten, dass es auch oft genug um die Auseinandersetzung mit offenen Fragen oder komplexen Problemen geht, die nicht mit ja/nein zu beantworten sind. Insofern greifen viele der von Sunstein durchexerzierten Szenarien und Gedankengänge nicht.
Zweitens schreibt Sunstein im Zusammenhang mit Prognosemärkten, dass durch den „richtigen“ finanziellen Anreiz das Problem der verdeckten Profile gelöst würde. Denn nun gäbe es ja eine Motivation, um – lapidar gesagt – den Mund aufzumachen und die eigenen Informationen mit der Gruppe zu teilen. Dumm nur, dass er selber klar stellt, dass dieses Problem befürchteter Sanktionen und Nachteile durch eine abweichende Meinung bereits dadurch gelöst ist, dass bei Prognosemärkten niemand mitbekommt, wer über welche Information verfügt und welche Meinung vertritt. Zudem gesellt er sich damit leider zu den Claqueuren einer eigennutzenmaximierenden Rationalität, die sich Motivation nur über finanzielle Zugewinne erklären können. Und das, obwohl er auch ausführlich darüber berichtet, wie Open Source und Wiki Gemeinschaften ohne jegliche monetäre Rüben vor der Nase jahrelang großartige Arbeit leisten. Einfach deshalb, weil sie ihre Arbeit als sinnvoll erleben.
Äußerst unpraktisch sind die Literaturhinweise in den Fußnoten am Ende jeder Seite. Damit muss man mühselig das ganze Buch durchblättern, um einen Überblick zu erhalten, der nicht mal alphabetisch geordnet ist. Wenn man einen bestimmten Autoren sucht, wird das Ganze zur Qual.

Fazit: Ein Buch für alle und jeden. Sorry, aber anders kann ich es nicht auf den Punkt bringen. Denn schließlich geht es jeden etwas an, wie wir in Gruppen, egal ob groß oder klein, bei der Arbeit oder Privatleben am besten zu nachhaltig guten Entscheidungen gelangen.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Sunstein, C. (2009): Infotopia. Wie viele Köpfe Wissen produzieren. Suhrkamp. Gebunden, 285 Seiten. 24,80€

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