Haben oder Sein

Liebe Leserinnen und Leser!

Ich schätze, dass es mindestens 20 Jahre her ist, seit ich Haben oder Sein das erste Mal las. Da der Titel immer noch äußerst pointiert und treffend ist, fiel mir dieses Buch wieder ein, sicherlich eines der bekanntesten und beliebtesten Werke Erich Fromms. Als ich es jetzt wieder mit dem Fokus einer möglichen Buchempfehlung las, war ich verblüfft. Vieles von dem, was in der Erstveröffentlichung 1976 zu lesen war, ist geradezu prophetisch. Fromm hatte bereits vor fast vierzig Jahren eine äußerst klare Sicht auf unsere Gesellschaft und Wirtschaft und vor allem: wo unsere momentane Welt hinsteuern wird, wenn wir sie nicht fundamental ändern. Somit ist dieses Buch für alle, die es noch nicht kennen, ebenso empfehlenswert wie für diejenigen unter Euch, die es bereits gelesen haben. Es lohnt sich, es noch einmal zu lesen. Fromm schärft unseren Blick auf eine inhumane Wirtschaft und Gesellschaft, deren Sozialcharakter mehr als nur bedenklich ist.

Bereits die Einführung hat es in sich. Fromm enttarnt den Fortschrittsglauben als neue Religion aus „Trias von unbegrenzter Produktion, absoluter Freiheit und uneingeschränktem Glück.“ (S. 273*) Bereits auf der ersten Seite seines Buches ist er damit im Zentrum dessen, was unsere Gesellschaft und Wirtschaft ausmacht. Eben ein Glaube, eine Ersatzreligion und deren Götzen, die viele immer noch und manche immer mehr anbeten, inklusive Kniefall. Selbst heute, knapp vier Jahrzehnte später, hat sich die große Verheißung nicht erfüllt: Leben wir alle in Wohlstand oder gar Reichtum, werden wir alle glücklich sein. Fromm stellt klar, warum diese Hoffnung bislang nicht eingetreten ist und auch nie eintreten wird: Es sind die „systemimmanenten ökonomischen Widersprüche … an den beiden wichtigsten psychologischen Prämissen.“ (S. 274) Erstens sei das Ziel unseres Lebens Glück, sprich: die maximal mögliche Lust im Sinne der Befriedigung aller subjektiven Wünsche und Bedürfnisse. Zweitens folge aus Egoismus, Selbstsucht und Habgier, mit anderen Worten Eigennutzenmaximierung, gesamtgesellschaftliche Harmonie und Frieden. Dummerweise stimmt die Rechnung so nicht. Denn wenn Haben unser Ziel ist, sind wir umso mehr, je mehr wir haben. Also müssen wir immer hab-gieriger werden, um unsere Existenz weiter auszudehnen, um zu wachsen und glücklich zu sein. Für die Wirtschaft folgte daraus, dass nicht mehr die Frage „was ist gut für uns Menschen“ im Zentrum steht, sondern: „Was ist gut für das Wachstum des Systems?“ Aus dieser Dynamik geht hervor, dass wir all die beneiden, die mehr haben und jene fürchten, die weniger haben. Das Ergebnis ist nur allzu logisch: „Habgier und Friede schließen einander aus.“ (S. 277)

In den ersten beiden Kapiteln untersucht Erich Fromm zunächst die Unterschiede der Bedeutungen von Haben und Sein, sowohl sprachlich als auch in der menschlichen Alltagspraxis. Am Ende seiner kurzen Analyse der Begriffsherkunft definiert Fromm Haben und Sein nicht als Eigenschaften eines Subjektes, sondern als viel tiefergreifende Existenzweise:

  1. „Im „Haben ist die Beziehung zur Welt die des Besitzergreifens und Besitzens, eine Beziehung in der ich jedermann und alles, mich selbst mit eingeschlossen, zu meinem Besitz machen will. …
  2. Bei der Existenzweise des Seins müssen wir zwei Formen … unterscheiden. Die eine ist das Gegenteil vom Haben… Sie bedeutet Lebendigkeit und authentische Bezogenheit zur Welt. Die andere Form des Seins ist das Gegenteil von Schein und meint die wahre Natur, die wahre Wirklichkeit einer Person im Gegensatz zu trügerischem Schein…“ (S. 290f)
Das Fatale: Unsere gewinnorientierte Gesellschaft ist nicht nur die Basis, wie Fromm schreibt, sondern sogar die Verführung zur Existenzweise des Habens. Damit eng verknüpft ist das Privateigentum, genauer der Wandel unseres Verhältnisses zum Eigentum: Früher kaufte man, um zu behalten. Pfleglicher Umgang, hohe Qualität und Reparaturen waren an der Tagesordnung. Heute kauft man, um zu verbrauchen. Es geht um immer schnelleren Konsum, Geiz ist geil, sprich: billig und minderwertige Qualität und schnellen Austausch, wenn etwas kaputt geht. Mit dem Haben geht es vor allem auch um sozialen Status und die Abgrenzung von all denjenigen, die sich nicht das gleiche leisten können, wie ich. Wie richtig Fromm mit dieser Analyse liegt, zeigen die immer schnelleren Produktionszyklen und der Vergötterung derjenigen, die das perfektionieren. Das Paradebeispiel ist der Hype um Steve Jobs.

Anders die Existenzweise des Seins. Ihre Vorbedingungen sind „Unabhängigkeit, Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft.“ (S. 333). „Es bedeutet, sich selbst zu erneuern, zu wachsen, sich zu verströmen, zu lieben, das Gefängnis des eigenen isolierten Ichs zu transzendieren, sich zu interessieren, zu lauschen, zu geben.“ (a.a.O.) Fromm verweist auf die Durchlässigkeit, die mit dem Sein verbunden ist, indem er eine wunderschöne Metapher von Max Hunzinger ins Spiel bringt: „Ein blaues Glas erscheint blau, weil es alle andern Farben absorbiert und sie so nicht passieren lässt. Das heißt, wir nennen ein Glas blau, weil es das blau gerade nicht in sich behält.“ Es erhält seine Qualität dadurch, dass es etwas gerade nicht hat oder behält, sondern es durch sich hindurch lässt. Darüber hinaus bedarf das Sein der (inneren) Aktivität, bei der es nicht so sehr um das Produkt der Aktivität geht, als vielmehr um deren Qualität. Wer sich selbst erneuern will, wer innerlich wachsen möchte, muss an sich und mit sich arbeiten, anstatt passiv zu sein und das innere Wachstum durch passiven Konsum zu ersetzen.

In direkter Verbindung damit steht das Arbeitsverhalten. Spätestens mit dem Aufgreifen dieses Themas wird die Verbindung dieses Buches zu einer menschlichen Wirtschaft deutlich. Fromm hinterfragt das „Stereotyp der Unternehmensleitungen über die Arbeiter“, das da lautet, Angestellte wären gar nicht an aktiver Mitwirkung und Mitgestaltung ihrer Arbeit interessiert. Tatsächlich verändern sich viele der zuvor desinteressierten Mitarbeiter, wenn ihnen die Gelegenheit geboten wird, am eigenen Arbeitsplatz Initiative zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Fromm bringt dazu auch drei interessante historische Beispiele: Da waren die „Söhne und Töchter der Oberschicht des Römischen Reiches, die sich der Religion der Armut und Liebe verschrieben“, anstatt weiter dem Haben zu frönen; oder Siddharta Gautama, besser bekannt als Buddha, der sich vom Luxus seiner Kaste abwendete, um ein Leben des Seins anzustreben. Und drittens die Kinder der russischen Oberklasse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Narodniki. Sie verließen ein Leben des Müßiggangs und des Luxus und „schlossen sich den armen Bauern an, lebten mit ihnen und bereiteten auf diese Weise den Boden für den revolutionären Kampf in Russland.“ (S. 344).

Schlussendlich entwirft Fromm eine mögliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunft, die gerade heute eine äußerst interessante Alternative zum bestsehenden Status Quo darstellt. Es geht darum, die Wirtschaft uns Menschen unterzuordnen und nicht umgekehrt, uns Menschen der Wirtschaft gefügig zu machen. Fromm knüpft bei E.F. Schumachers „Small is beautiful“ an, den er dazu zitiert: „Daß Wirtschaft nicht Lebensinhalt sein darf, ist der Menschheit von allen ihren großen Lehrern gesagt worden; daß sie es nicht sein kann, zeigt sich heute.“ (S. 386) Fromm leitet zum Wandel über, indem er weiter bei Paul und Anne Ehrlich Anleihen macht. Es geht darum einen schnellen und weitreichenden Wandel der menschlichen Grundeinstellungen bezüglich Fragen des Wirtschaftswachstums, unserer Technologien, unserer Umwelt und bei der Lösung von Konflikten zu erreichen. In Fromms Logik und Sprache heißt das: „Das Modell der neuen Gesellschaft (muss) auf die Erfordernisse des nicht-entfremdeten, am Sein orientierten Individuums ausgerichtet werden.“ (S. 395). Dazu bedarf es einiger wichtiger Schritte, die ich hier in Auszügen wiedergebe.

  1. Die Rechte der Aktionäre und Konzernleitungen, über deren Produktion alleine vom Blickwinkel des Profits und Wachstums zu entscheiden, müssen deutlich eingeschränkt werden.
  2. Des weiteren müssen alle Angehörigen von Unternehmen und Organisationen aktiv mitgestalten dürfen.
  3. Es bedarf es einer umfassenden Dezentralisierung von Wirtschaft und Politik.
  4. Bürokratisches Management muss durch humane Führung ersetzt werden. Menschen dürfen nicht mehr wie Dinge verwaltet und Dinge dürfen nicht alleine nach quantitativen Maßstäben behandelt werden.
  5. In kommerzieller und politischer Werbung sind Methoden der Gehirnwäsche zu verbieten. Aktuell betrifft das die Debatte um Neuromarketing.
  6. Die Spanne zwischen Arm und Reich muss reduziert werden. (→“Gleichheit ist Glück„)
  7. Wir brauchen die Garantie eines jährlichen Mindesteinkommens – das, was mittlerweile vielen als bedingungsloses Grundeinkommen bekannt ist.
  8. Frauen müssen endlich Männern umfassend gleichgestellt werden.
  9. Wissenschaftliche Grundlagenforschung ist von wirtschaftlicher und militärischer Anwendung zu trennen. Das erscheint heute noch wichtiger als zu Fromms Zeiten, gerade hinsichtlich der Verwirtschaftlichung und Privatisierung universitärer Bildung.

Fazit: Erich Fromm hat mit Haben oder Sein ein Werk geschaffen, das trotz seiner fast vier Jahrzehnte zurückliegenden Erstveröffentlichung heute noch von enormer Durchschlagskraft ist. Es ist ein Buch, dass für alle lesenswert ist, die in einer menschlichen Wirtschaft und Gesellschaft leben wollen.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Fromm, E. (2005): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. dtv. Taschenbuch, 272 Seiten. 7,90 €

*Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Version von Haben oder Sein in der Erich Fromm Gesamtausgabe, Band II. dtv, 1989

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