Gemeinwohl-Ökonomie

Liebe Leserin, lieber Leser!

Klar, es war nur eine Frage der Zeit, bis die „Gemeinwohl-Ökonomie“ von Christian Felber in diesem Rezensionsblog auftaucht. Ein Wirtschaftsmodell, dass Menschen, Gemeinwohl und Kooperation in den Mittelpunkt stellt anstatt Kapital und Konkurrenz, gehört definitiv hierher. Also, ab dafür:

Felber 2012 - Gemeinwohlökonomie

Wer mit der momentanen Wirtschaft nicht zufrieden ist oder sie sogar ausgesprochen abstoßend findet, der kommt früher oder später auf die Gemeinwohl-Ökonomie und Christian Felber. Mittlerweile gibt es zahlreiche Regionalgruppen oder etwas blumiger „Energiefelder“, in denen sich Menschen aktiv mit der Gemeinwohl-Ökonomie auseinanderesetzen und sie weiterentwickeln; es gibt bereits die vierte, ziemlich ausgefeilte Version der „Gemeinwohl-Bilanz“, die bereits zahlreiche Unternehmen freiwillig neben der gesetzlich vorgeschriebenen Finanzbilanz erstellen; darüber hinaus wird die Demokratische Bank in Österreich vielleicht bald Wirklichkeit und last not least reist Christian Felber wie ein Derwisch durch die Welt und hält einen Vortrag nach dem anderen. Das alles zu übersehen würde ein gerütteltes Maß an Ignoranz erfordern.

Felber steigt mit einer „Kurzanalyse“ ins Thema ein. Er hinterfragt den „Freien Markt“, legt dar, warum Vertrauen wichtiger als Effizienz ist und listet die Folgen von Gewinnstreben und Konkurrenz auf. Wer nicht ohnehin schon das bestehende System in seiner Verlogenheit durchblickt hat (Stichworte „Freier Markt“, „Wissenschaftliche Betriebsführung“ etc.), der bekommt hier nochmals die wichtigsten Argumente verdichtet geliefert. So ist der Einstieg schon mal eine gute Zusamenfassung, die kürzer kaum noch möglich ist.

Die große Stärke des Buches ist gleichzeitig seine Schwäche (dazu gleich mehr in meiner Kritik): Ein umfassendes Programm zur Erneuerung und radikalen Änderung des bestehenden Wirtschaftssystems. Zu Beginn steht die „Umpolung des Anreizrahmens“, weg vom „Gewinnstreben und Konkurrenz hin zu Gemeinwohlstreben und Kooperation.“ Wirtschaftlicher Erfolg soll nicht mehr als BIP und mit der bekannten Finanzbilanz gemessen werden, sondern mit Lebenszufriedenheit und der Gemeinwohl-Bilanz. In der logischen Folge werden nicht mehr Gewinn-, sondern Gemeinwohlstreben belohnt, zum Beispiel durch steuerliche Vorteile. Wachstum und Gewinnmaximierung sind nicht mehr Selbstzweck, sondern werden zum Mittel, dem Gemeinwohl zu nutzen. In dem Zusammenhang folgen eine Reihe zahlreicher Vorschläge, wie Überschüsse zukünftig nicht mehr genutzt werden dürfen und statt dessen verwendet werden sollen.

Felber kurz und knackig im O-Ton

Die nächsten, durchweg logischen Schritte sind die Entwicklung einer Demokratischen Bank, die sich auf Kernleistungen beschränkt, die dem Gemeinwohl dienen. Schließlich hat das heutige, marode Bankensystem die Marktregeln außer Kraft gesetzt, indem Banken so groß wurden, dass sie fürs gesamte Wirtschaftssystem relevant geworden und damit zu „ewigem Leben verdammt“ sind. Das ist das Ende des fairen Wettbewerbs der Finanzbranche. Danach setzt sich Felber mit der Frage nach Eigentum und Eigentumsverteilung und der damit verbundenen Ungleichheit auseinander und untermauert seine Argumente mit dem bahnbrechenden Werk „Gleichheit ist Glück“ von Wilkinson und Picket (→Rezension). Es folgt die Reflexion von Motivation und Sinn, eine Analyse unserer Selbstentfremdung und wie wir wieder zu sinnvollem Arbeiten und Wirtschaften gelangen inklusive diverser Vorschläge für die Reform unseres Erziehungs- und Bildungswesens. Im vorletzten Schritt nimmt sich Felber die „Weiterentwicklung der Demokratie“ vor, die er, völlig zu Recht, als reichlich mangelhaft erkennt.

Damit all diese weitreichenden Ansprüche und Handlungsvorschläge nicht utopisch erscheinen, präsentiert Felber gegen Ende diverse Unternehmensbeispiele, in denen bereits ein gerütteltes Maß an Gemeinwohlökonomie realisiert wurde: „Mondragón – die weltgrößte GenossInnenschaft“, „Sekem – Biolandwirtschaft in der Wüste“, „Göttin des Glücks und Craft Aid – ökofaire Textilien“, die GLS Bank und andere Finanzinstitute, Sonnentor, Zotter, natürlich Semco und viele mehr. Aber all das nutzt nichts, wenn wir nicht aktiv werden. Somit beschreibt Felber des weiteren eine umfassende Umsetztungsstrategie, präsentiert häufig gestellte Fragen und fasst schlussendlich die Gemeinwohl-Ökonomie in Zahlen und Fakten am Ende zusammen.

So weit so gut. Aber Einiges stößt mir auf: Da wäre gleich zu Beginn der Trugschluss, dass der kapitalistische Eigennutzen auf Adam Smiths „Wohlstand der Nationen“ zurückgehe. Von Sedláčeks „Ökonomie von Gut und Böse“ (→Rezension) habe ich gelernt: Das ist nur die halbe Wahrheit, hat doch Smith als Moraltheologe (sic!) in seinem ebenso umfassenden Werk „Theorie der ethischen Gefühle“ ein gänzlich anderes Bild vom Menschen gezeichnet. Zudem ist Eigennutzen nicht gleich Egoismus. Wenn wir gemeinsam mehr darauf achten würden, einen Beruf auszuüben, der uns persönlich mit GemeinwohlSinn erfüllt und unserem Bedürfnis nach Sinnerfüllung nutzt, wäre der Gemeinschaft ein Stück geholfen.
Dann fiel mir eine sonderbare Interpretation diverser unternehmerischer Methoden, Instrumente und Aufgabenbereiche auf: Angeblich würden neben Biosiegeln auch Qualitätsmanagementsysteme wie EFQM und die Balanced Scorecard als CSR-Instrumente missbraucht, um Greenwashing zu betreiben. Zudem würden diese Instrumente (eben wie auch rechtlich kontrollierte Biosiegel) nicht gesetzlich überwacht und würden sofort obsolet werden, sobald sie in Widerstreit mit der „Finanzbilanz“ treten. Das ist sachlich nicht haltbar: Qualitätsmanagement hat in seiner Entstehung und Funktion nichts mit mangelnder Ausrichtung von Unternehmen aufs Gemeinwohl zu tun. Ebenso sieht es mit der Balanced Scorecard aus. Die Gründe der Genese sowie die Funktion dieses Instruments liegen ganz wo anders. Des weiteren ist es Unsinn, Biosiegel, Qualitätsmanagementsysteme und strategische Steuerungsinstrumente wie die BSC über denselben Kamm zu scheren, um anschließend zu behaupten, diese Instrumente würden nicht gesetzlich kontrolliert. Manche Biosiegel werden eben doch seit geraumer Zeit gesetzlich kontrolliert (s.o.) und andere Instrumente sollten gar nicht staatlicher Kontrolle unterliegen (wie zum Beispiel die BSC, unabhängig davon, ob das ein intelligentes oder dämliches Instrument ist). Schließlich plädiert Felber selbst für Vertrauen und singt das – berechtigte – Hohelied auf die intrinsische Motivation.
Die größte und wichtigste Kritik kann ich aber nur intuitiv erspüren: Mich beschlich beim Lesen ein zunehmendes Gefühl, dass hier einer oder mehrere ein geschlossenes, fast perfekt anmutendes Wirtschaftsmodell entwickeln und vorstellen, auch wenn Felber auf der letzten Seite betont, die Gemeinwohl-Ökonomie wäre weder das beste aller Wirtschaftsmodelle noch das Ende der Geschichte. Das Entwicklungsprogramm droht zu kippen: Schöne neue Welt. Immer wieder kam mir paradoxerweise die Assoziation zu Huxleys Dystopie, nur mit umgekehrten Vorzeichen und damit subtiler gewoben. Es bleibt ein rational nicht greifbarer, unangenehmer Nachgeschmack (vergleichsweise offener geht Tim Jackson in seinem Buch →“Wohlstand ohne Wachstum“ vor).

Fazit: Trotz der nicht unerheblichen kritischen Aspekte ist die „Gemeinwohl-Ökonomie“ schon jetzt ein Klassiker der alternativen Wirtschaftsliteratur, ein Muss für alle Menschen: egal in welchen Funktionen, auf welcher Hierarchie-Ebene, in welcher Branche und in welchem Beruf oder auch arbeitslos. Wer eine dem Gemeinwohl verpflichtete Wirtschaft will, der sollte dieses Buch lesen und die vielen praktischen Handlungsvorschläge anschließend kritisch-konstruktiv weiterdenken. Um dann so oder so aktiv zu werden.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Felber, C. (2012): Gemeinwohl-Ökonomie. Erweiterte Neuausgabe. Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien. Paperback, 208 Seiten. 17,90€

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  1. […] Aspekte ihres Handelns und trachten danach, die Lebensqualität zu fördern und einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten.” (S. 103) Integre Organisationen beurteilen über diesen ersten Baustein hinaus […]

  2. […] letzten Jahren über den Weg gelaufen sind: Solidarische Ökonomie, Gemeinwohlökonomie (→”Gemeinwohl-Ökonomie“), patentfreie Produktion, Citizen Science (→”Citizen Science“) und natürlich […]

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