Das Semco System

Semco – gefühlte tausend Mal gehört, gesehen, gelesen. Immer wenn es um alternative Modelle der Unternehmenssteuerung geht, taucht Ricardo Semler und Semco auf. Es ist gewissermaßen unmöglich, Semler und Semco nicht zu begegnen, sobald es um Selbstorganisation und Mitbestimmung geht. Das erste Mal begegnete mir Semco in Niels Pflägings Buch →“Führen mit flexiblen Zielen„. Es war faszinierend, was ich da gelesen hatte und fortan stolperte ich an jeder Ecke auf dem Weg zu mehr Selbstorganisation über Semlers Firma. Auch wenn es schon deutlich länger erfolgreiche Unternehmen gibt, die Mitbestimmung konsequent umgesetzt haben, so ist Semco doch immer noch irgendwie der große leuchtende Stern am Himmel der Wirtschaftsdemokratie. Also musste ich auch irgendwann, früher oder später, endlich dieses Buch lesen, in dem Ricardo Semler höchstselbst über die Entstehung des „Semco Systems“ berichtet. Und das macht er richtig gut, unterhaltsam, für manche Leser sicherlich auch hie und da provokant, selbstkritisch und -ironisch, und vor allem: Immer auf der Suche nach einer noch besseren Lösung.

Semler 1993 - Semco SystemEins gleich vorweg: Leider, leider ist das Buch vergriffen. Obwohl es ein weltweiter Bestseller war, hat sich bis heute kein deutscher Verlag gefunden, das Buch wieder zu verlegen – was fast 20 Jahre nach der deutschen Erstveröffentlichung höchst interessant wäre. Also musste ich es mir antiquarisch besorgen und recht tief in die Tasche greifen. Aber die rund 60 Euro haben sich gelohnt, jeden Cent!

Im deutschen Vorwort geht Semler auf die Wende ein, die nur vier Jahre vor der Veröffentlichung des Buches so viel in Gang gebracht hat. Und stellt sogleich fest:

„Doch das höchste Ziel, eine Gesellschaft zu schaffen, in der sich freies Unternehmertum und Demokratie am Arbeitsplatz vereinigen, liegt auch in Deutschland noch in weiter Ferne.“ (S.8)

Und daran hat sich seit 1993 trotz unserer gewerkschaftlichen Mitbestimmungsmodelle herzlich wenig geändert. Gesamtgesellschaftlich geht Semler dann noch einen Schritt weiter: Er reflektiert kurz die Spannung zwischen Sozialismus und Kapitalismus und sieht im Semco System einen dritten Weg. Wenn das nicht spannend klingt…

Dramaturgisch geschickt geht es dann gleich in die für viele unglaubliche Welt von Semco mit seiner vielfältigen Produktpalette: Pumpen für die Entladung von Schiffen, Geschirrspülmaschinen mit einer Leistung von 4100 Tellern pro Stunde, Kühlaggregate für Gewerbegebäude, Mischanlagen ebenso für Raketentreibstoffe wie für Kaugummimasse oder schlüsselfertige Keksfabriken. Semco ist also eines offensichtlich nicht: eine Dreimannbude, bei der Mitbestimmung die Regel und nicht die Ausnahme ist. Und diese Mitbestimmung reicht weit: „Bei allen wirklich großen Entscheidungen, etwa dem Kauf eines anderen Unternehmens, bekommt jeder bei Semco en Stimmrecht.“ (S. 16) Aber das ist nun wirklich noch nicht alles.

Bei Semco gibt es keine Empfangsdamen, keine Sekretärinnen oder persönliche Assistenten, weil Semco kein Interesse an uninteressanten Jobs ohne Entwicklungs- und Aufstiegschancen hat. Also holt jeder (Top-)Manager seinen Besuch selbst ab (wogegen ja sowieso nicht das geringste spricht). Beim Parken gibt es keine Vorzugsrechte für leitende Angestellte, alle haben gleich Rechte. Die Kleiderordnung sieht keine durchgängige Regeln vor, jeder kommt, wie es ihm oder ihr passt. Es gibt keine Regelwerke, sondern nur eine ca. 20 Seiten umfassende Broschüre mit Cartoons zu den wichtigsten Fragen und Prinzipien. Neben dem transparenten Gehalt, dass die Mitarbeiter selber bestimmen gibt es einen Gewinnverteilungsplan, der ebenfalls mit den Mitarbeitern gemeinsam entwickelt wurde. Mitarbeiter können selbst zu Unternehmern werden und eigene Firmen gründen und ihre Produkte dann an Semco verkaufen, aber auch an Konkurrenzunternehmen. Das sollte reichen, um klarzustellen, wo die Latte hängt.

Spannender Ausschnitt aus einem Semler Vortrag 2011 mit einem tollen Konzept

Allein: Wie ist es dazu gekommen? War Semco – Semler & Company – schon immer ein derartig anarchistisch anmutendes Unternehmen? Das würden ja gerne alle glauben, die mit Inbrunst immer wieder verkünden, dass Wandel aus bestehenden hierarchischen und konservativen Strukturen nicht möglich ist. Also wie kam es dazu? Tja, das ist für den eben beschriebenen Menschentyp die schlechte Nachricht: Semco war durch und durch ein völlig normales Unternehmen mit einem normalen Organigramm mit immerhin 12 Hierarchie-Ebenen (heute sind es drei). Die Firma wurde 1952 von Ricardos Vater Antonio Curt Semler gegründet, indem er sein Patent für eine Zentrifuge zur Gewinnung pflanzlichen Schmieröls nutzbar machte. Nach mehreren Jahren klassischen Unternehmertums beschäftigte Semco immerhin schon 110 Mitarbeiter. Mit der Zeit wurde das Produktportfolio erst erweitert und dann wieder reduziert. In der Folge bestanden in den 1980ern 90% des Geschäfts in der Produktion von Schiffszubehör.

Etwa zu dieser Zeit stieg der der Sohn ins Geschäft des Vaters ein. Denn der wünschte sich händeringend einen Nachfolger aus der Familie und Ricardo fand es „eigentlich ganz vernünftig, ins Geschäft einzusteigen.“ (S. 31) Also alles in allem ein vollkommen umspektakulärer Einstieg ins Unternehmen, beinahe belanglos. Die Anfänge waren denn auch dementsprechend ohne besonderes Feuer, ohne große Ideen. Mit der Zeit jedoch wurde es Ricardo zu blöd, vom Vater immer auf Dienstreisen geschickt zu werden, wenn wichtige Entscheidungen im Unternehmen anstanden (in der Tat ein irgendwie reichlich ambivalentes Verhalten des Vaters, wollte er doch unbedingt einen Nachfolger). Also forderte er echte Gestaltungsmacht ein – und bekam sie.

Das war dann der Anfang einer von A bis Z überwältigenden Geschichte, in der Ricardo so ziemlich alles, was als State of the Art der Unternehmensführung und des Managements galt, kritisch hinterfragte und zumeist auf den Schrottplatz der Semco-Geschichte warf. Auf diesem rund 10 jährigen Ultra-Marathon kam er in den ersten Jahren gleich an seine körperliche Grenzen, wurde zweimal während der Arbeit ohnmächtig und lernte dadurch, dass er die große Transformation offensichtlich auf Kosten seiner Gesundheit durchpeitscht. Erfreulicherweise zeigte er sich lernfähig und entwickelte mit den Jahren sein jetziges Arbeitspensum von rund 3 Vormittagen pro Woche. Sein damit verbundenes Zeitmanagement macht er im Buch im Anhang genauso verfügbar, wie ein Feedbackfragebogen für Führungskräfte, oder das Überlebenshandbuch von Semco.

Bei all dem teils unglaublich anmutenden Geschichten geht allerdings ein wirklich übler Wermutstropfen beinahe unter: So sehr Semler und seine Company auch ein Vorbild für die Demokratisierung eines Unternehmens ist, so sehr ist es das nicht hinsichtlich ökologischer Nachhaltigkeit. An keiner Stelle reflektiert Semler etwaige Umweltschäden durch die eigene Produktion oder das Semco Kunden beliefert, die alles andere als integre Unternehmen sind. So sehr Semler einen fantastisch präzisen und weitreichenden Blick bezüglich der Demokratisierung von Semco entwickelt hat, so sehr mangelt es ihm in diesem Buch am Blick über diesen Tellerrand hinaus zu den ebenso wichtigen ökologischen Fragen der Nachhaltigkeit.

Fazit: Eine der besten Investitionen für alle, die echte Mitbestimmung und Innovation im Unternehmen wollen. Eine nicht zu unterschätzende Inspirationsquelle auf dem Weg zu einer demokratischen Organisation.

Herzliche Grüße

Andreas Zeuch

 

Semler, R. (1993): Das Semco System. Management ohne Manager. Das revolutionäre Führungsmodell. Heyne. Paperback, 427 Seiten.

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  1. […] über Sinnkopplung im Beruf), Selbstentfaltung, Mitbestimmung (→”Das Semco-System“), das Erleben gesunder Natur und last not least eine kooperative, nichtmaterialistische und […]

  2. […] als die meisten Unternehmen, erinnert deutlich an das Vorgehen, das Ricardo Semler (→”Das Semco System“) schon Jahre zuvor mit Semco erarbeitet und umgesetzt hat, nicht ganz so radikal aber doch […]

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