Auf dem Weg

Von Hölzchen auf Stöckchen, einmal mehr. Irgendwo habe ich über Cecosesola gelesen und bin auf dieses 165 Seiten starke Buch aufmerksam geworden. „Die Buchmacherei„, ein kleiner Verlag in Berlin hat den Band dankenswerter Weise herausgebracht. Es wird Zeit, dass dieses Buch mehr Aufmerksamkeit bekommt. Mehr Leserinnen und Leser. Viel mehr. Was ich da las, haut mich immer noch aus den Socken, etwas gediegener formuliert: Fasziniert, überrascht und begeistert mich. Nein, das stimmt nicht ganz. Es ist noch mehr. Mich beschleicht das Gefühl, dass sich seit Ende 1967 im venezuelanischen Bundesstaat Lara etwas Großes entwickelt hat. Ein lebendiges Experiment, das inspirieren kann weil es kein Modell ist und keinerlei Rezeptur zur Verfügung stellt. Vielleicht ist dies der Beginn von einer Entwicklung, die eines Tages über alle Kontinente in viele Länder hinein reicht – und unser aller Leben verändern könnte.

cecosesola

Das Besondere dieses Buches beginnt schon mit der Autorenschaft: Cecosesola. Es gibt keine einzelnen Autoren, sondern nur das gemeinsame Werk. Dabei steht Cecosesola für „Central Cooperativa de Services Soziales del Estado Lara“ – der Dachverband der Kooperativen für soziale Dienstleistungen im Bundesland Lara. Heute betreibt Cecosesola drei Wochenmärkte in Laras Hauptstadt Barquisimeto, die eine Million Einwohner umfasst. Auf diesen Märkten kaufen jede Woche rund 55.000 Familien ein, was in etwa einem Viertel der Stadtbevölkerung entspricht. Pro Woche werden dort 450 Tonnen Obst und Gemüse verkauft, zu Preisen die ca. 30% unter denen privatwirtschaftlicher Märkte liegen. Desweiteren bietet Cecosesola seit einigen Jahren eine eigene, selbstorganisierte Gesundheitsversorgung an, in der jährlich rund 190.000 Behandlungen durchgeführt werden. Hier liegen die Preise 60% unter den privaten Anbietern. Für Mitglieder der Kooperativen sind einige Behandlungen sogar kostenlos. Und weil Cecosesolas Frauen und Männer gemeinsam soviele neue Ideen entwickeln, gibt es mittlerweile (wieder) Transportbetriebe, eine Sparkasse und Finanzierungs- und Solidaritätsfonds. „2010 betrug der Umsatz all dieser Unternehmen 100 Millionen Dollar.“ (S. 10), erwirtschaftet von rund 20.000 Mitgliedern. Wir reden also nicht von irgendeiner kleinen postsozialistischen Klitsche.

Wer jetzt denken mag, dass dies mit Subventionen eines Staates, der ja mehr oder weniger bekanntermaßen Kooperativen fördert, keine große Leistung sei, liegt vollends daneben. Die Mitglieder von Cecosesola mussten vielmehr über Jahrzehnte gegen teils widrigste Bedingungen kämpfen, in denen sie durch den Staat permanent torpediert wurden. Dabei ist die Geschichte eine fast ein halbes Jahrhundert währende Tour de Force. Als Leser kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus, mit welcher Ausdauer die Kooperativistas an ihren sich ständig ändernden Geschäftsmodellen drangeblieben sind; wie sie ebenso mutig wie intelligent nicht nur gegen äußere Widerstände antraten, sondern auch innere, teils gezielte Zersetzungsprozesse transformierten. Und das alles in einem Land, in dem nicht nur nach unseren Maßstäben die Arbeitskultur und -moral lausig ist, sondern auch noch Verbrechen und Gewalt an der Tagesordnung sind (2007 gipfelte dies gemäß UNO in der weltweit höchsten Verbrechensrate mit Hilfe von Schusswaffen).

1967 gründeten zehn Kooperativen den Dachverband Cecosesola, um den Kooperativstas einen Beerdigungsservice anzubieten, da die einzelnen Kooperativen dies rechtlich bedingt nicht leisten konnten. Die ersten Jahre dümpelten eher so dahin, und nach sechs bis sieben Jahren hatten sich längst wieder formal-fixierte Hierarchien gebildet, die vor allem der eigennützigen Selbstbereicherung und Vorteilsnahme dienten: Und so zeigte sich 1974, das der damalige Geschäftsführer systematisch Geld veruntreute. Das war der Auslöser, der letztlich zum heutigen Stand führte. Denn nun wurde erst der Geschäftsführer entlassen, die Geschäftsführung durch Kooperativistas übernommen und der fixe Versammlungsraum der Geschäftsführung aufgelöst. Statt an einem festen Ort wurden die Versammlungen fortan mal hier, mal dort durchgeführt. Am wichtigsten war jedoch etwas anderes: Nach der außerordentlichen Versammlung infolge der Veruntreuung wurden zukünftig regelmäßige Treffen auf regionaler Ebene mit den Mitgliedern und Beschäftigten ins Leben gerufen. Und dort geschah – ohne zu dem Zeitpunkt auch nur zu erahnen, wie weitreichend dies sein sollte – die zentrale Veränderung: In den eben genannten Treffen wurden auch persönliche Verhaltensweisen regelmäßig kommuniziert und analysiert. Diese Treffen machen heute in unterschiedlichen Formen, flexibel und in verschiedener Vielzahl, den Wesenskern von Cecosesola aus. Sie stehen heute allen Personen offen.

1975 kam es unter anderem zu Schwierigkeiten im öffentlichen Personenverkehr. Die Busunternehmen wollten unter anderem den Fahrpreis um 100% erhöhen, wodurch es zu vielen kleinen und teils größeren Protesten kam. Allerdings führten die zu keiner Lösung und so entstand die konstruktive Idee, eine Transportkooperative zu gründen. Im November desselben Jahres reichten die Kooperativistas einen Kreditantrag bei der staatlichen Finanzierungsstelle für Kooperativen ein. Ziel war die Anschaffung von 235 Bussen inklusive der nötigen Ersatzteile, Werkzeuge, Betriebsstätten. Bewilligt wurde ein Kredit, der für 92 Busse reichte. Im Rahmen des damit verbundenen Wachstums an Personal entstand die Frage, wie sich das Busunternehmen und Cecosesola selbst organisieren kann. „Was füllt die Lücke, die in unserer Kultur entsteht, wenn es keine Hierarchie mehr gibt?“ (S. 26) Aber es kam, wie es kommen musste: Die neuen MitarbeiterInnen kannten nur die Arbeit unter einem Chef und kamen erst einmal überhaupt nicht damit klar, dass es die übliche Hierarchie nicht gab. Das Ergebnis war niederschmetternd, die MitarbeiterInnen übernahmen in vielen Fällen keine Verantwortung und taten nur das, wozu sie Lust hatten. Schließlich waren sie ja nun ihr eigener Chef.

Ein tolles, humorvolles Video in Spanisch mit Untertiteln – unbedingt sehenswert

In den folgenden Jahren gab es eine überaus bewegte Zeit, in der die Transportkooperative durch andere Transportunternehmen und staatliche Stellen unter Beschuss kam. Die MitarbeiterInnen von Cecosesola übten sich immer wieder in mehr oder weniger erfolgreichen Protestaktionen, mit denen sie versuchten, die Bevölkerung für sich zu gewinnen. Allerdings war dies in Summe nicht erfolgreich, Busse wurden beschlagnahmt und selbst auf richterliche Beschlüsse, in denen sie zurückgegeben werden sollten, folgten nur desaströse Momente, in denen festgestellt wurde, dass die beschlagnahmten Busse weitreichend ausgeschlachtet oder zerstört worden sind. Irgendwann in diesem Kampf entstand die Idee, die zu den heutigen Wochenmärkten als tragendem Element führten: In einem Bus wurden Sitze herausgelöst, verkauft und dafür Gemüse und Obst eingekauft und mit dem nun leeren Bus in Gemeinden gefahren, wo die ersten mobilen Märkte eröffnet wurden.

Unabhängig von den verschiedenen Geschäftsmodellen und Dienstleistungen lässt sich heute im Rückblick festhalten, dass die Entwicklung der Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen den Wesenskern der  heute noch fortlaufenden Transformation einerseits und des heutigen Zusammenarbeitens andererseits ausmachen. Diese Entwicklung ergab sich ungeplant in drei Schritten:

  1. Alles fing damit an, dass sich die Beteiligten „strikt an das gesetzlich festgelegte Vorgehen (hielten): Eine Versammlung pro Jahr und eine Geschäftsführung, an denen Vertreter der beteiligten Kooperativen beteiligt waren, ohne jegliche Beteiligung der Arbeiterinnen.  … Die Entscheidungen wurden per Abstimmung gefällt. Sie waren gültig und endgültig.“ (S. 126)
  2. Im zweiten Schritt entwickelten sich über die Jahre erste formale Veränderungen in der Beteiligung, indem Versammlungen und Leitungen auf Abteilungsebene eingeführt und eine Beteiligung von Vertretern der Arbeiterinnen zugelassen wurde. Die hierarchische Struktur blieb davon jedoch unberührt. Die Generalversammlung war weiterhin die höchste Autorität.
  3. Erst danach wurden die formalen Prozesse, die eine offene und direkte Beteiligung einschränkten, schrittweise abgeschafft. Die Treffen dienten im Laufe der Zeit nicht mehr in erster Linie einer Entscheidungsfindung. Statt dessen wurde der Informationsaustausch wichtiger und vor allem die gemeinsame Reflexion der täglichen Arbeit, individuellen Verhaltens und vor allem auch der täglichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern.

Die Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen spiegelten sich 2011 in rund 3000 wöchentlichen Treffen in den einzelnen Kooperativen und Projekten wieder, begleitet von 300 übergreifenden Versammlungen. Es gibt sechs Bereichstreffen: Die wöchentliche Kollektive Koordinierung, Analysetreffen und Treffen im Gesundheitsbereiche alle 14 Tage. Die ProduzentInnen und Dienstleister tagen monatlich und Treffen zwischen ProduzentInnen sowie den Märkten erfolgen auf Bedarf. Darüber hinaus gibt es Treffen zum Hilfsfonds alle zwei Monate und Bildungsveranstaltungen sowie die Generalversammlung im Turnus von drei Monaten. Zentral ist dabei, dass diese Struktur nicht zementiert ist. „Sie ist ein fließender und flexibler Prozess, in dem neue Treffen einberufen werden sobald eine Aktivität oder neue Bedürfnisse danach verlangen, und andere verschwinden, weil sie nicht mehr gebraucht werden.“ (S. 125)

Mittlerweile geht es darum, „von Vertrauen getragene Bindungen aufzubauen und zu gemeinsamen globalen Ansichten zu kommen, also um die eigene Veränderung.“ (S. 127) Heute können Entscheidungen auch von nicht repräsentativen Gruppen oder sogar Einzelpersonen gefällt werden, solange sie nur dem je aktuellen Geist des Dachverbandes entsprechen. Sollte jemand, der nicht dabei war, Einwände haben, können diese Entscheidungen sogar im Nachhinein wieder aufgerollt werden (was in diesem letzten Punkt ein wenig an das Holacracy-Prinzip erinnert, dass jede Entscheidung prinzipiell revidierbar ist). Außerdem ist klar, dass jener eben angesprochene gemeinsame Geist nicht in Stein gemeißelt sondern einem immer fortwährenden Entwicklungs- und Veränderungsprozess unterworfen ist. Das geht soweit, dass sogar Einzelpersonen neue kollektiv gültige Konsenskriterien aufstellen können. Cecosesola ist hochgradig adaptiv. Verändern sich relevante Parameter in der Innen- oder Außenwelt, passt sich der Dachverband an.

Auf diesem Weg wurde den Kooperativistas auch klar, dass die eigenen kulturellen Wurzeln ein maßgeblicher Aspekt der täglichen Arbeit und ihres Gelingens oder Scheiterns sind. Sie arbeiteten die eigenen kulturellen Wurzeln heraus, auch und gerade im Gegensatz zu westlichen Kulturmustern und Verhaltensweisen. In einem wahrhaft systemischen Umfang durchdrang Cecosesola die Zusammenhänge kultureller und individueller Aspekte, Arbeit und Beziehung sowie der organisationalen und persönlichen Veränderung. Und so verwundert es auch nicht, dass die AutorInnen eindeutige, ausgesprochene Bezüge zum Selbstorganisations- und Autopoiesekonzept von Humberto Maturana herstellen.

„Auf dem Weg“ gibt es keine immer klaren Meilensteine oder Bezugspunkte. Es gibt vielmehr eine Menge Unsicherheiten, die den Mut brauchen, um sich diesem Nichtwissen zu stellen. Bislang wurde dieser Mut belohnt. Wohin die Reise führt ist ungewiss.

Fazit: Ein Buch für alle, die sich für extreme Formen gleichberechtigter Zusammenarbeit interessieren, jenseits aller bisherigen Organisationsmodelle. Allerdings bedarf es des Mutes, sich erstens nicht von sozialistischen Assoziationen abschrecken zu lassen und zweitens sich auf eine Reise zu begeben, die möglicherweise die eigenen Ängste vor einer radikal neuen Organisationsform freilegt.

Herzliche Grüße

Andreas Zeuch

 

Cecosesola (2013): Auf dem Weg. Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela. Die Buchmacherei. 165 Seiten,  € 9,- + € 1,50 Porto (nur direkt über den Verlag)

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  1. […] linkspolitischen Umfeld gegründet. Im Gegensatz zu anderen Kooperativen, wie beispielsweise den venezuelanischen Dachverband Cecosesola, war und ist Longo maï von Anfang an hochgradig politisch orientiert. Das hat natürlich ebenso […]

  2. […] und Wirtschaftskonzepte, wie beispielsweise der venezuelanische Genossenschaftsdachverband Cecosesola (den Scheidler nicht erwähnt, der aber aus meiner Sicht extrem beeindruckend ist). Scheidler […]

  3. […] und respektvolle Zusammenarbeit gibt es ein Buch, dass ich uneingeschränkt empfehle: “Auf dem Weg. Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela.” Eben habe ich die Rezension dazu veröffentlicht. Ich bin fasziniert, erstaunt und berührt, […]

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